Ist es eine Tragödie, eine Komödie, ein Schwank? Sicher ist: Der schier endlose und endlos verzwickte Fall um den mutmasslichen Millionenbetrüger Dieter Behring ist um eine Facette reicher. Der Behring-Richter nimmt sich einen Staranwalt, weil er selbst zum Beschuldigten zu werden droht. Aber von Anfang an, aufgeteilt in Akte.
Financier Behring soll 2000 Anleger um 800 Millionen Franken betrogen haben (siehe Box am Ende des Textes). Die Bundesanwaltschaft, die seit 2004 gegen Behring ermittelte, wollte einst auch neun Mitbeschuldigte anklagen. Bis Michael Lauber 2012 Bundesanwalt wurde und die Mitbeschuldigten im Hauptanklagepunkt laufen liess. Er «fokussierte» den Fall auf Behring. Die Einstellung gegen die Mitbeschuldigten war aber nur rechtens, wenn das Verfahren in der Sache Behring 2012 noch nicht anklagereif war. Andernfalls verletzte Lauber den Grundsatz «in dubio pro duriore»: Im Zweifelsfall muss angeklagt werden.
Hier hakte Behrings Verteidigung unter dem Zürcher Anwalt Bruno Steiner ein: Gab es 2012, als Lauber die «Fokussierungsstrategie» verfügte, bereits Anklageentwürfe? Befragt von Bundesstrafgerichtspräsident Daniel Kipfer, sagte Lauber im Juni 2016 als Zeuge im Behring-Prozess: «Meines Wissens nicht, nein, meines Wissens nicht, weil die ge... äh –». Er verneinte die Existenz solcher Entwürfe. Nur: Zwei weitere Zeugen, unter ihnen der frühere Verfahrensleiter, gaben später an, es habe sehr wohl Anklageentwürfe gegeben. Die Frage, die sich also stellte: Hat der Bundesanwalt vor Gericht gelogen?
Von jeder Zeugenvernehmung gibt es ein schriftliches Protokoll, so auch im Fall Lauber. Es wurde vom Vorsitzenden Kipfer und vom Gerichtsschreiber unterzeichnet. Ihnen unterlief aber ein eigentümlicher «Fehler». Statt der Frage, ob Anklageentwürfe vorgelegen hätten, stand im Protokoll die Frage: «Haben Sie vom Bundesstrafgericht irgendwelche Hinweise bekommen, wie mit dem Verfahren fortzufahren sei …?» Laubers Antwort «Meines Wissens nicht, nein, meines Wissens nicht, weil die ge... äh – » ergab plötzlich einen ganz anderen Sinn. Die mögliche Falschaussage war verschwunden.
Behring und seine Verteidigung merkten, dass im Protokoll eine Frage fehlte, dafür eine andere doppelt verwendet wurde: Jemand hatte zur Copy-Paste-Funktion gegriffen. Verteidiger Steiner vermutete, dass es sich um eine absichtliche Fälschung handeln musste: «Die Verwendung dieser Tastenkombination setzt einen willentlichen Vorgang und eine Absicht voraus», hielt er in einem Schreiben fest. Er reichte bei der Bundesanwaltschaft Strafanzeige gegen Kipfer und allenfalls unbekannt wegen Protokollfälschung ein.
Zum Zug kam jetzt Carlo Bulletti, leitender Staatsanwalt des Bundes und Untergebener von Lauber. Bulletti, zuständig für Staatsschutz, verfügte im Oktober 2016 «Nichtanhandnahme» der Anzeige gegen Kipfer. Also kein Verfahren. Begründung: Kipfer habe den Fehler nach Bekanntwerden «ohne weiteres» korrigiert. Zudem relativierte Bulletti die Bedeutung des Protokolls, da es ja auch eine Tonbandaufzeichnung gebe. Eine «versuchte Begünstigung» von Lauber durch Kipfer oder unbekannt sei «nicht ersichtlich».
Behring und seine Anwälte erhoben im Oktober 2016 bei der Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts Beschwerde gegen Bullettis Entscheid. Dieser sei anzuweisen, die Strafuntersuchung gegen Kipfer beziehungsweise unbekannt «an die Hand zu nehmen». Anwalt Steiner stellte in der Beschwerde unselige Konstellationen fest: Laubers Untergebener entscheidet über eine Strafanzeige, die indirekt Lauber betrifft. Die Beschwerdekammer des von Kipfer präsidierten Gerichts werde nun über das weitere Geschick der Anzeige gegen Kipfer entscheiden. «Etwas vereinfacht gesagt, Lauber könnte eigentlich gleich selbst über die Nichtanhandnahme verfügen und Kipfer über deren Bestätigung entscheiden», so Anwalt Steiner.
Nun wurde es dem Präsidenten Kipfer zu brenzlig. Er engagierte den vielleicht renommiertesten Strafverteidiger in der Schweiz. Den Mann, der vor Bundesstrafgericht bereits den Bankier Oskar Holenweger herausgehauen hatte (Kipfer war, das am Rande, Mitglied des Gremiums, das Holenweger freisprach): den Zürcher Anwalt Lorenz Erni. Mitte Juli 2017 meldete sich Erni beim Gericht und verlangte als Erstes eine Fristerstreckung bis 31. August: «Sowohl mein Mandant als auch ich sind in den Ferien im Ausland.»
Staranwalt Erni reichte Anfang August 2017 seine Stellungnahme zur Beschwerde Behring ein. Darin rügte er alle. Das Gericht wegen seines Schlendrians: Die Beschwerde datiere vom Oktober 2016, und erst «rund acht Monate später (!) lud die Beschwerdekammer meinen Mandanten zur Stellungnahme ein». Inhaltlich argumentierte Erni, Behring habe im Fall gegen Kipfer gar keine Parteistellung, die Beschwerdekammer hätte gar nicht auf die Beschwerde eintreten dürfen. Er rügte die Bundesanwaltschaft: Sie habe gar keine Ermächtigung für ein Vorverfahren gegen Kipfer eingeholt, hätte dieses daher gar nicht durchführen dürfen. Und er rügte Behring: So oder so sei die Beschwerde «haltlos und unbegründet».
Seither herrscht Funkstille in Bellinzona. Nun gilt: Warten auf den nächsten Akt, und der kommt bestimmt. Behrings erfahrener und experimentierfreudiger Anwalt Bruno Steiner schaut den Abwehraktionen der Justiz interessiert und empört bis belustigt zu. Ob Gerichte, Bundesanwaltschaft oder Aufsichtsbehörden: «Alles wird der Wahrung des Ansehens der Institutionen untergeordnet.» So sei es passiert bei Behrings Anzeige wegen Falschaussage gegen Lauber, so werde es nun auch mit jener gegen Kipfer getan: Das System erkläre die Anzeigen mit vereinter Kraft für nichtig mit dem Ziel, sich selbst zu schützen. Bei allem Verständnis für die politische Opportunität dieses Verhaltens, sagt Steiner: «Es besteht die Gefahr, dass die Hüter der Verfassung zu Verhütern von Recht und Menschenrechten werden.»