Dass die beiden eine sexuelle Beziehung miteinander unterhielten – im Atelier, in einer öffentlichen Toilette, in einem Hotelzimmer –, war unbestritten. Selbst in den Details deckten sich die Aussagen des Beschuldigten und der Zivil- und Strafklägerin vor dem Bezirksgericht weitgehend. In der Frage, wie es dazu kam, gingen die Darstellungen aber komplett auseinander. Die damals 16-jährige Lehrtochter sei «eine sexuell aktive Person» gewesen, sagte Kenad Melunovic, der Verteidiger des Inhabers und Geschäftsführers einer kleinen Bijouterie im Raum Aarau, der sich am Montag vor Gerichtspräsident Andreas Schöb als Einzelrichter zu verantworten hatte. «Sie hat alles gewollt und iniziiert.» Trotzdem: «Er hätte widerstehen müssen – das steht ausser Frage.»
Strafbar gemacht, so Melunovic, habe sich sein Mandant damit aber nicht. Denn: Damit der Straftatbestand der sexuellen Handlungen mit Abhängigen, den die Staatsanwaltschaft dem Bijoutier vorhielt, erfüllt ist, muss die abhängige Person «unter Ausnützung ihrer Abhängigkeit zu einer sexuellen Handlung verleitet» werden. Ist dies nicht der Fall, sind sexuelle Handlungen zwischen einem Lehrmeister und seiner minderjährigen, aber über 16 Jahre alten Lehrtochter im Sinne von Art. 188 StGB nicht strafbar.
Oliver Wächter, der Anwalt der Zivil- und Strafklägerin erklärte, der Lehrmeister habe das Vertrauen der Lehrtochter schamlos ausgenützt. Den von der Leitenden Staatsanwältin Barbara Loppacher unterzeichneten Strafbefehl bezeichnete er als «unhaltbar» und als «Geschenk für den Beschuldigten». Seiner Meinung nach wäre eine Anklage wegen Nötigung und Vergewaltigung fällig gewesen. Ursprünglich sei auch ein Verfahren wegen Vergewaltigung eröffnet worden. Und seitens der Staatsanwaltschaft sei in diesem Punkt nie eine Einstellungsverfügung ergangen. Wächter stellte daher einen Rückweisungsantrag, den der Gerichtspräsident jedoch abwies.
Versuchten der Beschuldigte und sein Verteidiger, wie Wächter meinte, «das Opfer zur Täterin zu machen»? Sie habe den Lehrmeister nicht zu verführen versucht, sagte die Lehrtochter, während deren Befragung der Beschuldigte nicht im Gerichtssaal anwesend war. Sie habe alles nur getan, weil sie die Lehrstelle nicht habe verlieren wollen. Als der Gerichtspräsident wissen wollte, ob der Lehrmeister in dieser Hinsicht Druck ausgeübt habe, antwortet die junge Frau, sie wisse es nicht mehr so genau. Als Auskunftsperson zur wahrheitsgetreuen Aussage verpflichtet, vermied sie jede klare Aussage, wonach sie ausgenützt worden sei. Und häufig konnte sie sich nicht mehr erinnern oder wollte sich nicht mehr äussern. Die Vorfälle liegen drei Jahre zurück und Strafanzeige erstattete die Lehrtochter fast ein Jahr später. Den Lehrvertrag unterschrieb sie, obschon sie laut ihren Aussagen vom Lehrmeister schon während der Schnupperlehre auf der verbalen Ebene sexuell belästigt wurde. Ein paar Monate später kündigte sie, nachdem die Affäre zu Ende gegangen und sie eine Beziehung mit einem andern älteren Mann eingegangen war.
Schwierig wurde es für die Zivil- und Strafklägerin, als Verteidiger Melunovic einen Trumpf nach dem andern auf das Richterpult blätterte: über 80 Fotos, welche die Lehrtochter dem Chef geschickt hatte – und die sie zum Teil in anzüglichen Posen, teils oben ohne oder gar nackt zeigten. In einem Fall, so der Beschuldigte, habe sie ihm solche Fotos aus einer öffentlichen Toilette geschickt – mit der Aufforderung, doch mal schnell vorbeizukommen. In der ersten Einvernahme hatte sie noch behauptet, dem Chef ein einziges Bild geschickt zu haben, am Montag, bevor der Verteidiger die ganze Bilderschwemme offenlegte, räumte sie ein, es seien wohl bis zu zehn Fotos gewesen. Der Whatsapp-Chat zwischen Lehrtochter und Lehrmeister ist nicht erhalten, die Fotos sind es nur deswegen, weil der Beschuldigte die Funktion «Fotos automatisch sichern» nicht ausgeschaltet hatte. Dass ein junges Mädchen dem Chef solche Bilder freiwillig schicke, erklärte der Anwalt der Zivil- und Strafklägerin, könne er sich nicht vorstellen. Diese selber wollte die Fotos weder sehen noch sich im konkreten Fall dazu äussern.
Gerichtspräsident Andreas Schöb sprach den Beschuldigten im Punkt der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Abhängigen von Schuld und Strafe frei. «Beide Seiten», so der Richter, «überzeugen mich nicht vollends – es bleiben Zweifel. Das führt zu einem Freispruch ‹in dubio pro reo›.» Die Fotos würden einen Schatten auf die Aussagen der Lehrtochter werfen – und der Lehrmeister habe seine Verantwortung nicht genügend wahrgenommen. Es sei aber zu wenig erkennbar, wie der Beschuldigte Druck auf seine Lehrtochter ausgeübt haben sollte. Eine bedingte Geldstrafe, verbunden mit einer Busse von 1100 Franken, kassierte der Lehrmeister trotzdem: Die Polizei hatte auf seinem Notebook kinderpornografisches Material gefunden. (aargauerzeitung.ch)