Gestern um 14.50 Uhr, im grossen Gerichtssaal der 1. Strafkammer des Aargauer Obergerichts wurde diese Geschichte umgeschrieben.
Bis dahin war sie eine Geschichte mit Happy End. Es war die Geschichte von Luana*, einer 24-jährigen Albanerin, die sich dank unglaublichem Mut und mit Hilfe der Schweizer Justiz aus den Fängen alter Traditionen befreien konnte. Die befreit wurde, von ihrem Ehemann, der sie in den Ferien im Kosovo durch eine Vergewaltigung entjungferte, sie zwang, ihn zu heiraten und in die Schweiz zu holen, sie hier weiter vergewaltigte und mit dem Tod bedrohte. Diese Luana erkämpfte sich ein selbstbestimmtes Leben mit eigenem Job und eigener Wohnung. watson hatte nach einem entsprechenden Urteil des Bezirksgerichts Lenzburg Luanas Geschichte erzählt.
Nun muss die Geschichte umgeschrieben werden. Luanas Ehemann Arsim* ist unschuldig. Gestern Mittwoch um 14.50 Uhr eröffnete der Gerichtspräsident am Aargauer Obergericht die Urteilsverkündung mit einem Freispruch: Glaubwürdigkeit der Klägerin in Frage gestellt, vorinstanzliches Urteil aufgehoben, mehrfache Vergewaltigung, mehrfache Drohung und mehrfache Nötigung lassen sich in dieser Ehe nicht beweisen. Die vier Jahre Freiheitsstrafe und 1800 Franken Busse für Arsim sind gestrichen. Luanas Genugtuung von 10'000 Franken auch.
Jetzt erhält Arsim – arbeitslos, ohne Wohnung, mit abgelaufener B-Aufenthaltsbewilligung – 78'750 Franken Entschädigung für seine 630 Tage in U-Haft. Luana muss die Prozesskosten übernehmen und bleibt Arsims Ehefrau. Die Aussicht auf eine schnelle Scheidung wegen Unzumutbarkeit der Ehe aufgrund schwerwiegender Gründe ist in weite Ferne gerückt.
Arsim umarmt nach der Urteilsverkündung seinen Bekannten vor dem Gerichtssaal. Ihn hat er als Vertrauensperson angemeldet für die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführte Verhandlung. Was er über den Fall seines Freundes dachte, sagte er in der Pause: «Sie war nicht zufrieden mit ihrem Ehemann, als er nicht sofort einen Job in der Schweiz fand. Jetzt will sie ihn loswerden», sagt er. «Wissen Sie, das ist eine Top-Familie aus der der Arsim stammt.»
Ebendieser unbekannte Albaner sass in Luanas Rücken, als sie während ihrer Befragung, die Arsim nur per Videoübertragung mitverfolgen konnte, über intimste Details der mutmasslichen Vergewaltigungen Auskunft geben musste. Darüber, wie und von wo Arsim genau in sie eingedrungen ist, wie lange es gedauert hat, wann er sie genau an den Haaren gepackt oder wie er ihre Arme auf dem Rücken festgehalten und ihr den Bademantel hochgezogen hat.
Luana hatte gemäss des Briefs ihres Anwalts angenommen, dass dieser beantragen würde, dass sie von einer Richterin alleine und ohne Beisein von Arsim befragt werden würde. Jetzt sitzen ihr zwei männliche Richter und eine Richterin gegenüber und in ihrem Rücken hören ein Staatsanwalt, Arsims Verteidiger, ihr Anwalt, ein Anwaltspraktikant und ein unbekannter älterer Albaner-Freund ihres Ehemannes mit. Arsims Familie und er selber haben Luana im Vorfeld Gewalt angedroht, sollte sie die Anzeige nicht zurückziehen.
Luana schafft es nicht. Sie zittert am ganzen Körper und knetet verzweifelt den Therapieball, den ihr ihre Psychologin gegeben hat. Sie atmet so schwer wie eine lungenkranke alte Frau, schnappt nach Luft, schüttelt sich im Weinkrampf, verliert während einer Panikattacke vollkommen das Gefühl für Zeit und Raum. Die Befragung wird unterbrochen. Ihre Therapeutin darf sich zu ihr begeben. Danach kommen die weniger schwierigen Fragen.
«Sie schauspielert», wird Arsim danach sagen. Ein Dolmetscher übersetzt ihn vom Albanischen ins Deutsche. «Ich weiss nicht, warum sie solche Sachen erzählt. Das ist alles nicht wahr. Wir liebten uns», wird er sagen. Und: «Ich bin nicht wütend auf sie, nur traurig.»
Und das Gericht wird befinden, dass seine Aussagen über die ganze Dauer der Strafuntersuchung und der Prozesse konstant gewesen seien und diejenigen Luanas unstimmig. Dass Luana typische Interaktionen nicht geschildert habe und vor Gericht keine Details zu Protokoll habe geben können. Von den angeblichen Vergewaltigungen vor drei Jahren gab es keine Arztberichte, dafür reichte die Verteidigung Selfies der beiden aus angeblich glücklichen Tagen ein. Eine Facebook-Nachricht, in der Arsim Luana schreibt, dass sie ihn mit ihrem Verhalten ja selber zwinge, sie «mit Zwang zu packen», reichte nicht.
Jetzt sitzt Luana wie versteinert auf einem Stuhl im Sitzungszimmer der Kanzlei ihres Anwalts. So, als wäre nicht gerade ein Freispruch, sondern ein Todesurteil verkündet worden. Luana ist kreideweiss. Ungläubig starrt sie in die Gesichter der Menschen um sie herum. Vielleicht sagt irgendjemand gleich, dass das alles gar nicht stimmt? Niemand sagt etwas.
Luana wird in den nächsten paar Stunden ebenfalls nicht im Stande sein, einen zusammenhängenden Satz zu sagen oder einen klaren Gedanken zu fassen. «Er ist frei?», fragt sie immer und immer wieder. «Er ist unschuldig?», fragt sie ungläubig. «Wann wird er genau frei gelassen?», fragt sie zusammengesunken und wie auf dem Stuhl festgeklebt. «Morgen? Und was ist dann mit mir?», fragt sie und: «Muss denn erst jemand sterben?»
*Name geändert.
Lies hier die ganze Geschichte von Luana: Luana – Wie sie ihren Vergewaltiger im Kosovo heiraten und in die Schweiz holen musste