Tobias Kuster sass wegen Freiheitsberaubung, versuchten Raubes und versuchter Nötigung hinter Gitter. Im September 2015 verurteilte ihn das Zürcher Obergericht zu einer Freiheitsstrafe von fünfeinhalb Jahren. Ende 2017 hätte Kuster bei guter Führung freikommen können.
Doch bei seinem ersten unbeaufsichtigten Hafturlaub kehrte er nicht wie vereinbart am 23. Juni ins Pöschwies zurück, sondern tauchte unter. Gegen den 23-jährigen besteht der dringende Verdacht, am Tötungsdelikt im Zürcher Seefeld vom vergangenen Donnerstag beteiligt gewesen zu sein.
Wie wurde über Kusters Urlaub entschieden? Und kann das Risiko, dass Straftäter währenddessen untertauchen, minimiert werden? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
23 Jahre ist es her, als der Häftling Erich Hauert während des Hafturlaubs im zürcherischen Zollikerberg eine 20-jährige Pfadfinderin ermordete. Der «Fall Hauert» sorgte dafür, dass die Vollzugsbehörden bei Entscheidungen über Hafturlaube von einer unabhängigen Fachkommission unterstützt werden. In diesen interkantonalen Konkordaten sitzen Vertreter der Bereiche Vollzug, Psychiatrie und Strafverfolgung.
«Die Entscheidungsfindung ist sehr komplex», sagt Ursula Frauenfelder Nohl, Präsidentin der Ostschweizer Strafvollzugskommission, die Zürcher Straffälle beurteilt. «Vorstrafen, das Verhalten im Vollzug, Gutachten, Therapie- und Vollzugsberichte fliessen in die Entscheidung mit ein», erklärt Frauenfelder Nohl. Rechtlich seien die Empfehlungen nicht verbindlich, doch die Vollzugsbehörden würden dem Entscheid der Fachkommission immer folgen.
Nicht immer aber wird die Fachkommission zu Rate gezogen – ob und wann, das entscheiden die Vollzugsbehörden selber. Bei Tobias Kuster, der während seines dritten Hafturlaubs untertauchte und noch immer flüchtig ist, entschieden die Vollzugsbehörden selbständig – weil keine Unsicherheit darüber bestand, dass Kuster ein unbegleiteter Urlaub gewährt werden sollte. Der Insasse galt nicht als gemeingefährlich. Was die Fachkommission entschieden hätte, darüber gibt Frauenfelder Nohl keine Antwort: «Wir kennen ja die Akten nicht.»
Das Schweizer Strafvollzugssystem sieht eine möglichst rasche Resozialisierung von Straftätern vor. Begleitete Urlaube, oder begleiteter stundenweiser Ausgang bildet dabei die erste Stufe. Klappt das, darf der Insasse unbegleitet das Gefängnis verlassen. Er muss aber genau angeben, wo er sich wann aufhalten wird. Kuster beispielsweise musste sich während des Urlaubs in kurzen Abständen telefonisch melden – von einem Festnetz-Anschluss aus, dessen Nummer er vorher angeben musste.
Danach kann der Häftling extern arbeiten, extern wohnen, und schliesslich probeweise entlassen werden – jeweils unter der Einhaltung bestimmter Auflagen.
«Das Problem bei diesem wie bei vielen Fällen ist, dass Kuster eine zeitlich befristete Strafe absitzt», sagt Staatsanwalt und ehemaliges Fachkommissions-Mitglied Thomas Hansjakob. «Damit sitzen die Vollzugsbehörden in der Zwickmühle: Sie müssen möglichst früh mit Hafterleichterungen beginnen, damit rechtzeitig erkannt wird, ob der Insasse sich angemessen resozialisiert.» Sobald das Urteil rechtskräftig ist, können die Behörden den Vollzug planen. Zwei bis zweieinhalb Jahre vor der Entlassung muss mit Hafterleichterungen begonnen werden.
Hafturlaube seien zwingend, betont Hansjakob. «Es wäre viel riskanter, einen Menschen bis zum Ablauf der Strafe einzusperren und dann unvorbereitet freizulassen.» Ausserdem habe es bei Kuster ja zunächst mit den Hafturlauben geklappt. Es habe also keinen Grund gegeben, ihn nicht unbegleitet freizulassen. Das betonte auch Thomas Manhart an der Pressekonferenz am Montag: Der Häftling habe alle Voraussetzungen für einen unbegleiteten Urlaub erfüllt. Man sei weder von Flucht- noch von einer anderen Gefahr ausgegangen.
«Das hat polizeitaktische Gründe», sagt Hansjakob. «Ich gehe davon aus, dass die Ermittlungsbehörden Hinweise hatten, wo sich der Häftling aufhält.» Offensichtlich habe man ihn dort aber nicht gefunden, keinen Ermittlungsansatz gehabt und deshalb nachträglich die Öffentlichkeit miteinbezogen.
Hansjakob fährt weiter: «Wenn öffentlich gefahndet wird, ist das Risiko gross, dass der Häftling erst recht untertaucht.» Polizeilich werde der Insasse ja trotzdem zur Fahndung ausgeschrieben. Und zwar gemäss Hansjakob bereits zwei bis drei Stunden nachdem er wieder im Gefängnis hätte sein sollen. Hansjakob: «Wie intensiv dann gefahndet wird, hängt von der Gefährlichkeit ab.»
Der Fall Kuster werde dazu führen, dass das System erneut überprüft und weiter perfektioniert werde, sagt Hansjakob. Es liege aber in der Natur der Sache, dass mit Hafturlauben ein Risiko eingegangen werde, ja werden müsse. Das System, so wie es heute ist, sei «nahezu perfekt», sagt der Staatsanwalt. «Früher musste ein Insasse so oder so freigelassen werden – ob er während des Strafvollzugs kooperierte oder nicht». Heute aber könne ein Gericht stationäre Massnahmen nachschieben.
«Die Resozialisierung der Täter und die Sicherheit der Bevölkerung werden immer in einem Spannungsfeld stehen – wobei heute die Sicherheit den Vorrang hat», sagt Hansjakob. Dabei sei das Deutschschweizer System bisher konsequenter als das in der Romandie. Dort wehrten sich kürzlich Gefängnispsychiater gegen die Forderung, die Vollzugsbehörden über den Behandlungsverlauf während des Vollzuges zu informieren. «In der Deutschschweiz ist selbstverständlich, dass die Behörde weiss, wie der Häftling in der Therapie mitarbeitet», sagt Hansjakob.
«Grundsätzlich: Null Risiko gibt es nicht, wenn man Straftäter sinnvoll auf die Freiheit vorbereiten will», schliesst Hansjakob.