Wie eine mittelalterliche Festung steht die Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf ZH. Als Besucher steht man plötzlich vor einer riesigen Mauer. Nur eine winzige Tür ist in die Mauer eingelassen. Fehlt nur noch, dass eine Kettenbrücke heruntergelassen wird. Stattdessen öffnet sich die Schiebetür, nachdem man über Gegensprechanlage und Videoerkennung identifiziert wurde. Erst wird der Journalist drinnen kontrolliert – das Prozedere ist das Gleiche wie am Flughafen – ehe er von Andreas Naegeli in Empfang genommen wird.
Der kräftige Händedruck beweist: Dieser Mann hat hier das Sagen. Seit gut fünf Jahren ist der 55-Jährige Direktor der grössten geschlossenen Justizvollzugsanstalt der Schweiz. Diese stand erst vor wenigen Wochen im Fokus des Interesses, da hier der Rupperswiler Mörder Thomas N. seine Strafe absitzt.
Naegeli nimmt die Frage gleich vorneweg: «Nein, ich habe Thomas N. bis jetzt noch nicht persönlich kennen gelernt.» Weshalb nicht? «Weil dazu bis jetzt keine Notwendigkeit bestand.» Die Antwort zeigt: Naegeli hat eine gesunde Distanz zu seiner Arbeit, führt diese aber mit nicht minder viel Herzblut und Professionalität aus, wie der weitere Verlauf des Gesprächs zeigt.
Wie wird man eigentlich Gefängnisdirektor? Hat er schon als Bub davon geträumt, Chef von Hunderten von Ganoven zu sein, während seine gleichaltrigen Freunde Pilot, Baggerführer oder Astronaut werden wollten? «Nein, mein Weg führte über Umwege in den Justizvollzug», so Naegeli, der in der Region Baden wohnt, vorsichtshalber aber seinen genauen Wohnort nicht öffentlich machen will.
Als junger Mann brach er die Kanti Wettingen ab, nachdem für ihn nach einem dreiwöchigen Landdienst klar war, dass er Landwirt werden möchte. Zur gleichen Zeit entwickelte er auch eine grosse Freude und Leidenschaft für Pferde. So absolvierte er zuerst die RS als Trainsoldat, also Pferdeführer, ehe er in Lenzburg die landwirtschaftliche Lehre begann. Und wie es das Schicksal so will, sollte die Tochter seines Lehrmeisters später Naegelis Frau werden.
Nach der Lehre liess sich Naegeli an der Hochschule zum Agronom ausbilden. Seine erste Stelle führte ihn für acht Jahre ins Bündnerland, wo er als landwirtschaftlicher Berater tätig war. Parallel dazu machte er im Militär Karriere und brachte es bis zum Oberst. «Das Militär hat mir viel gegeben, Führungsqualitäten, Organisationstalent und nicht zuletzt Kameradschaften, die bis heute Bestand haben. Irgendwann kam bei mir der Wunsch auf, auch beruflich Führungsaufgaben zu übernehmen. Dabei stiess ich auf das Inserat, in dem ein Vizedirektor für die Strafanstalt Bostadel in Menzingen ZG gesucht wurde. Da mich der Justizvollzug schon immer interessierte, bewarb ich mich auf die Stelle.»
Es klappte, als erst 35-Jähriger wurde Naegeli 1998 Vizedirektor der Anstalt und er zog mit seiner Familie – im gleichen Jahr kam sein zweiter Sohn zur Welt – ins «Flachland» wie er selber sagt. Schon knapp vier Jahre später folgte der nächste Wechsel, als er in der Justizvollzugsanstalt Wauwilermoos LU das Amt des Direktors übernahm. «Die offene Vollzugsanstalt mit ihrem angegliederten Bio-Landwirtschaftsbetrieb war quasi auf meine Fähigkeiten und Interessen zugeschnitten», blickt Naegeli zurück. «Ich verbrachte dort elf spannende und schöne Jahre – beruflich wie familiär.»
Man könnte es dann fast schon Fügung nennen, dass die Justizvollzugsanstalt Pöschwies just zu der Zeit einen neuen Direktor suchte, als es auch darum ging, wer das schöne Bauernhaus seiner Eltern – nur 25 Fahrminuten von Regensdorf entfernt – übernimmt. Naegeli bewarb sich auf die Stelle und erhielt wieder den Zuschlag. «Man muss auch sehen, dass es auf dem Arbeitsmarkt nur eine begrenzte Auswahl an geeigneten Personen gibt, die für das Amt eines Gefängnisdirektors über den nötigen beruflichen Rucksack verfügen», sagt Naegeli bescheiden.
Seit Anfang 2013 ist er nun Pöschwies-Direktor und somit Chef von über 300 Mitarbeitenden und Herr von über 400 Insassen. Wer nun vermutet, er führe sein Amt mit eiserner – ganz seiner militärischen Karriere verpflichtenden – Art, den überrascht Naegeli mit seiner Aussage: «Ich sehe mich auch als oberster Häftling, der sich hin und wieder für die Interessen dieser Gruppe einsetzen muss.» So käme es immer wieder vor, dass seine Mitarbeiter das Gefühl hätten, er sei zu weich oder zu nachsichtig. «Natürlich gelten bei uns klare Regeln und die Häftlinge müssen wissen, was für Konsequenzen ihnen bei Widerhandlungen drohen.»
Doch letztlich würden überharte Reaktionen oder Sanktionen nichts bringen. «Vielmehr geht es darum, hier in der Pöschwies ein Klima von gegenseitigem Respekt zu schaffen», sagt Naegeli, der sich selber als Menschenfreund bezeichnet. «Wenn man diesen Job macht, muss man Menschen gern haben. Es ist unsere Aufgabe dafür zu sorgen, innerhalb dieser Mauer für ein Klima zu sorgen, in dem auch eine Versöhnung stattfinden kann.»
Natürlich vergesse man dabei nicht die Tat, die im Zentrum stehe «und die uns überhaupt zusammengeführt hat». Und selbstverständlich denke er auch an die Opfer, die oft ein Leben lang von den Folgen einer schlimmen Tat gezeichnet sind. «Doch indem wir uns um die Täter kümmern, sorgen wir für maximalen Opferschutz. Der Täter muss hier seine Strafe sühnen und wird im Idealfall wieder resozialisiert.»
Doch was sagt Naegeli dazu, wenn einer seiner bekanntesten Insassen, Hugo Portmann – der Bankräuber wird bald aus dem Gefängnis entlassen – öffentlich den Umstand kritisiert, man werde im Gefängnis alles andere als resozialisiert, sondern im Gegenteil «lebensunfähig» gemacht. Die Antwort von Naegeli fällt überraschend differenziert und kritisch aus: «Man kann sich grundsätzlich fragen, ob es klug ist, Menschen einzusperren. Nur: Was wäre die Alternative?»
Die Aufgaben, die der Justizvollzug zu erfüllen habe, seien komplex und auch voller Widersprüche. «Gemäss Strafgesetzbuch haben wir dafür zu sorgen, dass der Strafvollzug den allgemeinen Lebensverhältnissen so weit als möglich entspricht, wir haben die Betreuung des Gefangenen zu gewährleisten, haben den schädlichen Folgen des Freiheitsentzugs entgegenzuwirken und den Schutz der Allgemeinheit, des Vollzugspersonals und der Mitgefangenen angemessen Rechnung zu tragen. Dies alles unter einen Hut zu bringen, ist eine grosse Herausforderung.»
Wollte man die Häftlinge in besserem Umfang betreuen und somit besser auf ein straffreies Leben vorbereiten, bräuchte es massiv mehr Personal. «Doch dieses Szenario wird wegen der angespannten Finanzen und auch wegen der Akzeptanz in der Bevölkerung ganz bestimmt nicht eintreten», gibt sich Naegeli realistisch.
Wer an Gefängnisse denkt, dem kommen unweigerlich Bilder und Klischees aus Hollywood-Filmen in den Sinn. Eines davon sind interne Hierarchien und Hackordnungen – je nach Schweregrad der Delikte. Wie sieht die Realität aus? «Das mit den Kategorien stimmt. So wird etwa sexueller Missbrauch – insbesondere an Kindern – auch unter Häftlingen als besonders abstossend angesehen.»
Wird also etwa Thomas N. von seinen Mithäftlingen abgegrenzt? «Zu Einzelfällen kann ich nichts sagen. Nur so viel: Der Fall Thomas N. ist für uns nicht deshalb ein spezieller, weil er sich speziell verhalten würde, sondern wegen des ganzen Drumherums vor allem auch in den Medien. Das hat natürlich auch bei den anderen Insassen für eine gewisse Unruhe gesorgt.» Thomas N. sei ein «normaler» Häftling, und werde in der Pöschwies grundsätzlich auch als solcher behandelt.
Damit sich keine Gruppen bilden, würden die Gefängnisinsassen bewusst gemischt. «In den rund 24-köpfigen Gruppen sollen möglichst viele Nationen, Delikttypen, Religionen und auch Altersgruppen gemischt sein; das stabilisiert das ganze System», so Naegeli. Auch seien jegliche Geschäfte wie Tausch, Leihe oder Schenkungen unter den Häftlingen untersagt, damit keine Abhängigkeiten entstehen können.
Auch wenn Naegeli nicht jeden Insassen persönlich kennt, so verschanzt er sich tagsüber nicht einfach in seinem Büro. «Ich bin so oft wie möglich an der Front anzutreffen. Erstens ist es mir wichtig, zu sehen, was dort läuft. Zweitens will ich damit auch meinen Mitarbeitenden den Rücken stärken.» Es komme nur ganz selten vor, dass ein Häftling auf einer «Audienz» bei ihm bestehe. «Dann muss aber schon etwas sehr Dringendes vorliegen. Im Normalfall können das meine Mitarbeitenden regeln.»
Ob er denn nie Angst gehabt habe, auch um seine Familie, da er als Direktor angreifbar sei? «Nein. Nochmals: Wenn man sich professionell verhält und die Insassen respektvoll behandelt, dann hat man in der Regel auch nichts zu befürchten. Denn auch die Insassen wissen: Es waren nicht wir, die sie zur Strafe verurteilt haben.» Und wie sieht es mit freundschaftlichen Beziehungen – insbesondere über die Haftdauer hinaus – aus? «Es gibt hier in der Pöschwies Insassen und Mitarbeitende, die kennen sich teils schon über 30 Jahre. Da ist es völlig normal, dass eine Art Beziehung entstehen kann. Doch auch hier ist eine gesunde und vor allem professionelle Distanz gefragt.» Dazu gehöre seiner Meinung auch, dass die Beziehung nach Ablauf der Haftstrafe ende.
Seit 20 Jahren arbeitet Andreas Naegeli nun schon im Justizvollzug. Was haben all diese Jahre – umgeben von Schwerverbrechern und konfrontiert mit den menschlichen Abgründen – aus ihm gemacht? «Es gibt in unserer Branche durchaus Menschen, die zum Zyniker werden.» Die von den Insassen begangenen Delikte wolle er überhaupt nicht entschuldigen; sie seien teils auch mit nichts zu entschuldigen. Aber: «Die letzten 20 Jahren haben mich bescheiden und demütig gemacht. Ich habe in diesen Jahren derart viele traurige Biografen gesehen; es braucht manchmal nur so wenig, um einen Menschen aus der Bahn zu werfen. Auch deshalb bin ich einfach nur dankbar, für die Chancen, die ich in meinem Leben erhalten habe.»