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Zu wenig Plätze: Psychisch kranke Kinder müssen in Erwachsenenklinik

Eine Studie des Bundes beklagte schon vor zwei Jahren eine «deutliche Unter- und Fehlversorgung» an kindsgerechten Plätzen in Psychiatrien.
Eine Studie des Bundes beklagte schon vor zwei Jahren eine «deutliche Unter- und Fehlversorgung» an kindsgerechten Plätzen in Psychiatrien.bild: shutterstock

Zu wenig Plätze: Psychisch kranke Kinder müssen in Erwachsenenklinik

Immer mehr Kinder und Jugendliche leiden an psychischen Erkrankungen. Stationäre Therapieplätze gibt es für sie aber nicht genug. Deshalb müssen manche der kleinen Patienten in die Erwachsenenklinik. 
12.05.2018, 10:0212.05.2018, 20:33
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Die 14-jährige Marie* sitzt still am Tisch eines Gemeinschaftsraums einer Psychiatrie im Raum Zürich. Auf dem Sofa liest eine Frau Mitte vierzig Zeitung, ein Mann mit schütterem Haar trinkt Kaffee. «Als ich das Mädchen so sitzen sah, ging ich auf es zu, um es aufzuheitern, um ihm Gesellschaft zu leisten», erinnert sich die ehemalige Patientin Jasmin*. «Ich hatte Mitleid mit ihr. Was tat sie hier? Ein Mädchen in diesem Alter gehört in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie, nicht in eine Klinik mit lauter Erwachsenen mit psychischen Problemen.»

Fälle wie dieser sind hierzulande keine Seltenheit. In Schweizer Psychiatrien fehlt es an Betten für minderjährige Patienten. So kommt es immer wieder vor, dass Kinder und Jugendliche notfallmässig in ungeeignete psychiatrische Institutionen überwiesen werden müssen, weil kein kindgerechter Platz vorhanden ist.

Daniel Müller, Sprecher der Luzerner Psychiatrie, sagt: «Bei den stationären Behandlungsplätzen haben wir vor allem im Akutbereich eine Unterversorgung. Kinder und Jugendliche, die nicht ins Kinderspital oder in unseren Therapiestationen als Notfälle aufgenommen werden können, müssen deshalb teilweise in der Erwachsenenpsychiatrie hospitalisiert werden.»

Auch die Klinik Sonnenhof in Gantenschwil SG kennt die Problematik. Hier stehen für den Normalbetrieb 39 Betten zur Verfügung. «Nur müssen in der Regel mehr als 40 Kinder und Jugendliche gleichzeitig betreut werden», sagte der Chefarzt der Klinik Ulrich Müller-Knapp letzten Sommer zur Zeitschrift «Beobachter». 

Die Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie hat ebenfalls mit Platzmangel zu kämpfen. «Für stationäre Behandlungen, die nicht notfallmässig erfolgen, gibt es eine lange Warteliste», so Chefarzt Michael Kaess. 

Ein Grund für den Platzmangel in den Kliniken ist die Zunahme an Erkrankungen bei Minderjährigen. Laut neueren Studien sollen bis zu zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen unter psychischen Störungen leiden, die eine Behandlung benötigen. Gemäss einer Untersuchung der Aachener Universitätsklinik entwickeln sich bei ganzen 20 Prozent der Heranwachsenden in der Pubertät psychische Auffälligkeiten. 

Dies macht sich auch bei der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie bemerkbar. Hier haben sich die ambulanten Notfallaufnahmen in den letzten zehn Jahren verdreifacht. «Und auch im ersten Quartal 2018 zeigt sich im Vergleich zu letztem Jahr nochmals ein deutlicher Anstieg», so Chefarzt Michael Kaess.

«Deutliche Unter- und Fehlversorgung»

Bereits eine 2016 erschienene Studie des Bundesamts für Gesundheit bestätigt den Mangel an geeigneten Plätzen. In der Schweiz gebe es eine «deutliche Unter- und Fehlversorgung» für psychisch kranke Kinder und Jugendliche, so das Fazit der Verfasser. Betroffen seien alle Regionen und Angebotsformen. Also Stadt und Land, ambulante und stationäre Therapieplätze.

Die Studie kritisiert, dass die kleinen Patienten deshalb in Einrichtungen für Erwachsene untergebracht werden. Das dortige Umfeld sei für sie ungeeignet. Ausserdem sei das medizinische Personal oft nicht geschult im Umgang mit Kindern. Denn während die jungen Patienten der Luzerner Psychiatrie auch in der Erwachsenenpsychiatrie von spezialisierten Sozialpädagogen für Minderjährige betreut werden, ist das bei weitem nicht überall so.

Welcher der jungen Patienten in einer Erwachsenenpsychiatrie platziert wird, entscheiden die Kliniken in erster Linie je nach Ausmass der Gefährdung. Dann wird das Alter der Patienten berücksichtigt. Je jünger der Minderjährige, desto eher kommt er in der Regel an einen altersgemässen Therapieplatz.

Deshalb müssten Jugendliche mit akuter Selbstgefährdung einen Platz in der Erwachsenenpsychiatrie in Kauf nehmen, so Daniel Müller der Luzerner Psychiatrie. Um dem entgegenzuwirken, gibt es in dieser Klinik seit rund vier Jahren eine Station mit vier Betten für Jugendliche. Es handelt sich jedoch nur um eine Übergangslösung, eine Akutstation für Kinder und Jugendliche ist geplant – die Nachfrage besteht.

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Video: srf

Laut Michael Kaess der Berner Universitätsklinik für Kinder- und Jugendliche hängt der Platzmangel auch mit der Finanzierung der Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen. Denn die jungen Patienten zu betreuen, ist teuer: «Es braucht mehr Personal als in der Erwachsenenpsychiatrie, diverse Systeme und Umfelder müssen in die Therapie einbezogen werden.» Die Finanzierung von Krankenkassen und Kantonen decke diese Kosten in den meisten Fällen nicht gänzlich, sagt Kaess. So rechne sich die Kinder- und Jugendpsychiatrie für die Kliniken meist nicht.« Deshalb gilt es, das ganze System zu überdenken.»

Kinder leiden immer öfter

Auch die Hotline der Pro Juventute stellt in den letzten sieben Jahren fest, dass immer mehr Kinder und Jugendliche wegen persönlichen Problemen Hilfe suchen. Am häufigsten zur Sprache kämen dabei Suizidgedanken. Danach Krisen, Angst und depressive Stimmungen. Über die Gründe wird spekuliert. Oft nennen Experten das Smartphone, der heutige Leistungsdruck oder die Welt der unbegrenzten Möglichkeiten, in der unzählige wichtige Entscheidungen getroffen werden müssen.

*Name der Redaktion bekannt. 

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18 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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domin272
12.05.2018 10:17registriert Juli 2016
Bedenklich... Die Kinder werden heute viel zu früh mit viel zu vielen unnötigen Anforderungen eingedeckt... Diese elenden höchst subjektiven Kompetenzbewertungen, die im Personalbereich schon enorm fragwürdig sind gibt es heute fast schon im Kindergarten... Die Kinder sollen heute schon selbständig zur Welt kommen, ihre eigenen Ziele setzen und Entscheidungen treffen, die ihr ganzes Leben beeinflussen. Wie soll das gehen, wenn ihnen nicht mal die Zeit gewährt wird sich selbst überhaupt zu finden und zu entdecken?! Wenn auf Gefühle keine Rücksicht genommen wird endet alles so...
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Mahatma
12.05.2018 11:22registriert Februar 2016
Es ist einfach tragisch, in einem der reichsten Ländern der Welt ist man nicht in der Lage psychsich kranke Kinder und Jugendliche adäquat zu behandeln. Kinder die mit der Welt nicht zurechtkommen die wir Ihnen geschaffen haben. Immer höher, schneller weiter. Nur wer die meisten Klicks hat ist wer, immer schöner, schlanker, cooler und reicher. Ein Leistungsdruck der immer weiter wächst und an dem Erwachsene zu hauf scheitern... immer bessser, immer Wachstum, Stillstand ist Rückschritt.
Die Schuld trifft die Gesellschaft, uns alle! Höchste Zeit nachzudenken was man noch retten kann!
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Ueli der Knecht
12.05.2018 13:15registriert April 2017
Man kann nur immer wieder auf den schweizer Wahlspruch in der Bundesverfassung verweisen:

"Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen."
https://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/index.html#ani1

In diesem Sinne sind die psychisch kranken Kinder, resp. die "die Zunahme an Erkrankungen bei Minderjährigen" nur ein unmissverständliches Symptom eines schwachen, zunehmend kranken Volkes.

Es braucht nicht mehr Psychiatrieplätze, um Kinder zu "versorgen", sondern dringendst neue Konzepte, um Kindern und ihren Familien eine gesunde und lebenswerte Gesellschaft zu bieten.
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