Schweiz
Kommentar

Windkraft: An diesen Anblick sollten wir uns möglichst schnell gewöhnen

In den Alpen herrschen neben dem Jura die besten Bedingungen für Windkraftwerke in der Schweiz.
In den Alpen herrschen neben dem Jura die besten Bedingungen für Windkraftwerke in der Schweiz.bild: montage watson.
Kommentar

An diesen Anblick sollten wir uns möglichst schnell gewöhnen

17.08.2022, 17:3617.08.2022, 22:59
Mehr «Schweiz»

Optisch macht sich unser Energieverbrauch hierzulande nur partiell bemerkbar. Zum Beispiel im Tessin mit der riesigen Verzasca-Staumauer oder in Teilen des Mittellandes, wo die Dampfsäulen der AKWs Beznau, Gösgen und Leibstadt die Ortsbilder prägen – oder auf der A13 vor Chur. Dort produziert das fast 120 Meter hohe Windkraftwerk Haldenstein jährlich 4,5 GWh Strom.

Von vereinzelten Schwerpunkten mal abgesehen, verhalten sich die Zeugen unseres Energieverbrauchs aber typisch schweizerisch: diskret. Das hat einen Grund. Einen schönen Anteil der Hässlichkeit unseres Energieverbrauchs lagern wir aus. Zum Beispiel nach Nigeria. Von dort importieren wir seit ein paar Jahren den Löwenanteil unseres Rohölbedarfs. Und während wir mit stolzen Heimatgefühlen aus dem geheizten Chalet auf naturbelassene Bergketten blicken, leckt im Nigerdelta irgendwo wieder eine Pipeline.

Ein anderer bedeutender Energielieferant ist Kasachstan. Kasachwer? Kasachwo? Egal, der Thermostat zeigt wohlige 24 Grad. Ein Vorteil der fossilen Energieträger ist bekanntlich, dass die Schweinerei fernab unserer Augen geschieht.

Ölgewinnung in der Wüste in Kasachstan.
Ölgewinnung in der Wüste in Kasachstan.

Auf kurz oder lang: Mit der fortschreitenden Elektrifizierung des Transportwesens, der Industrie und der Heizsysteme werden wir auf Öl, Gas und andere brennbare Treibstoffe aus dem Ausland verzichten. Die bisher importierte Energie, so der Plan, soll durch möglichst viel einheimischen Strom ersetzt werden. Und davon braucht es reichlich. Mittelfristig gehen auch unsere Atomkraftwerke in Rente. Diese Ausfälle müssen ebenso kompensiert werden.

Die grosse Frage lautet: womit?

Auf dem Papier ist die Frage bereits beantwortet.

Neue Atomkraftwerke sind de facto verboten, die Kernfusion ist noch immer nur ein Traum, die Wasserkraft ist fast ausgeschöpft und auch ein gross ausgebautes, engmaschiges PV-Netz kann den Bedarf im Winter nicht decken.

Nein, das mit Abstand grösste, fast ungenutzte Potenzial birgt in der Schweiz die Windkraft.

Laut einer amerikanischen Studie ist es derart gross, dass damit in Kombination mit anderen Erneuerbaren (vor allem PV) und dem Einsatz von cleveren Speicherlösungen der gesamte Schweizer Energiebedarf gedeckt werden könnte. Kostenpunkt: 75 Milliarden Franken. Wohlgemerkt: Wir reden vom gesamten Energiebedarf, nicht nur vom aktuellen Strombedarf. Und das auch im Winter. Denn der Vorteil der Windkraft ist, dass sie vor allem während der kalten Monate glänzt. Auf ein fast schon beängstigend ähnliches Resultat kommt eine Schweizer Studie der EPFL.

Energy made in Switzerland – zu 100 Prozent. Der Gedanke ist verlockend. Doch der Effort wäre enorm.

Three of the four wind turbines of the Elektrizitaetswerk Ursern power plant stand in the background, and in the foreground, there is an old Swiss military cannon camouflaged as a stone, pictured on M ...
Windanlage und getarnte Kanone auf dem Gotthard.Bild: KEYSTONE

Die Nominalleistung der Windkraftanlagen müsste laut der Stanford-Studie auf 16,5 GW ausgebaut werden. Die etwas über 40 bereits installierten Windräder kommen zusammen auf weniger als 0,1 GW. Dafür wären 5450 neue Windkraftanlagen nötig. Zum Vergleich: Aktuell existieren in der Schweiz ca. 3300 Tankstellen. Stell dir also mindestens an jeder Tankstelle eine 84 Meter hohe Windturbine vor. 40 Prozent davon müssten im Jura stehen. Der Rest in den Voralpen und den Alpen. Dort wäre das Potenzial am höchsten.

Wäre.

Die Windkraft hat in der Schweiz einen enorm schweren Stand. Ihre Gegner argumentieren, ihre Produktion sei zu laut, zu tödlich für Vögel und Fledermäuse, vor allem aber gilt sie, so wird man den Verdacht nicht los, als zu hässlich*. Man kann doch unsere heile Schweizer Natur, die weiten Hügelzüge des Juras, nicht mit Windkraftwerken verschandeln. Mit einer ähnlichen Argumentation wurde kürzlich gegen eine Solaranlage in Gondo demonstriert. Das Geschrei bei Windturbinen ist ungleich lauter. Vor allem aber dauert es länger.

Des opposants au projet Gondosolar de l'association privee Mountain Wilderness Suisse participent a la manifestation "Feu dans les Alpes" a l'Alpjerung en dessus de la commune vala ...
Für eine «wildnisverträgliche Energiewende»: friedliche Demonstration der Naturschutzorganisation Mountain Wilderness Schweiz in Gondo.Bild: keystone

Bis eine Windkraftanlage in der Schweiz bewilligt wird, dauert es immer wieder Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte. Der geplante Windpark Grandsonnaz, ein Projekt aus dem Jahr 2007, steckt noch immer in den politischen Mühlen auf Gemeindeebene fest. Mit Einsprachen torpediert wird auch der Windpark Mollendruz (Planung seit 2009). Seit 2014 wird um zwei Windturbinen im appenzellischen Honegg-Oberfeld gefeilscht, inklusive einer (mittlerweile abgelehnten) Beschwerde beim Bundesgericht. Die Planungs- und Bauphase der Anlage auf dem Gotthardpass dauerte 18 Jahre.

Zur Erinnerung: Es braucht nicht eine Handvoll Windkraftwerke in der Schweiz. Es braucht hunderte, idealerweise tausende.

Mit dem Ausbau der Erneuerbaren in der Schweiz holen wir die Energieproduktion nach Hause, die Abhängigkeit vom Ausland wird verringert, die Unterstützung dubioser Regime ebenso. Die Energieausgaben verringern sich, die Luftqualität steigt, Gesundheitskosten werden gesenkt. Der Ausbau der Erneuerbaren ist für die Schweiz eine Multi-Win-Situation.

Nur eine Kröte müssen wir schlucken: Mit der Energiegewinnung importieren wir auch deren Hässlichkeit. Das Schweizer Landschaftsbild wird sich verändern – von Diskretion kann kaum mehr die Rede sein. Windräder hinter dem Starthäuschen am Lauberhorn, Windräder neben der Langlaufloipe, beim Wellnessen, beim Wandern, bei der Passfahrt. Windräder, wohin man schaut.

Energiegewinnung produziert Kosten – auch beim Landschaftsbild. Das müssen wir akzeptieren lernen. Man kann Windräder hässlich schimpfen, fairer, vor allem aber cleverer wäre es, sie als Symbol der Modernisierung, des Fortschritts und der Unabhängigkeit zu feiern.

*Das Schweizer Start-up AWP versucht, leisere, diskretere und tierverträglichere Windturbinen herzustellen. Ihr Produkt befindet sich aktuell in der Testphase.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Der Feuerwehr-Panzer «Big Wind»
1 / 7
Der Feuerwehr-Panzer «Big Wind»
Die Fahne deutet es an: Dieses Gefährt wurde in Ungarn gebaut. Ingenieure kombinierten ein T-34-Chassis mit zwei Mig-21-Triebwerken. Was das Ganze soll? (Bild: Tumblr)
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Der Strom verschwindet aus der Luft
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
325 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Bikemate
17.08.2022 18:06registriert Mai 2021
Ich finde die Windräder auf dem Gotthard eher cool als störend.
Es ist sicher auch eine Frage der Einstellung. Ist man aus Prinzip dagegen, oder möchte man eine Lösung die auch noch morgen funktioniert.
27524
Melden
Zum Kommentar
avatar
Nordkantonler
17.08.2022 18:00registriert September 2020
"wo die Dampfsäulen der AKWs Beznau, Gösgen und Leibstadt die Ortsbilder prägen"

Wenn über Beznau eine Dampfsäule steht, ist aber vermutlich etwas schiefgelaufen: das Kraftwerk hat keinen Kühlturm, sondern speist das Kühlwasser direkt wieder in die Aare ein.
2098
Melden
Zum Kommentar
avatar
Jamaisgamay
17.08.2022 18:08registriert April 2016
Ich war kürzlich am Neusiedlersee in Österreich. Da hat's Tausende! Und sie haben mich optisch überhaupt nicht gestört.
21232
Melden
Zum Kommentar
325
Eine Stunde und 20 Minuten länger – so war der Stau am Gründonnerstag

Zum Beginn der Osterfeiertage ist es am Donnerstag vor dem Gotthard-Nordportal zu neun Kilometern Stau gekommen. Der Zeitverlust betrug am Nachmittag eine Stunde und 20 Minuten. Auf der Südseite des Gotthards blieb es nach den Schneefällen vom Mittwoch ruhig, Stau gab es im Tessin nur beim Grenzübergang zu Italien in Chiasso.

Zur Story