Der Mann an sich und ich – ihr wisst, wir liegen eher selten im selben Bett. Aber jetzt schon! Gut, «079» von Lo & Leduc hab ich erst vor wenigen Tagen überhaupt bewusst gehört, 21 Wochen Nummer eins hin oder her. Ich war sehr angetan. Keinen Moment lang wär mir in den Sinn gekommen, das kleine herzige Lied sexistisch zu finden. Vielmehr eröffneten sich für mich da 3 Minuten und 23 Sekunden Romantik in Reinstkultur, wie ich es schon lang nicht mehr gehört habe. Quasi ein winziges romantisches Manifest.
Romantik ist nämlich nicht dieses von Rosamunde Pilcher erfundene Gewaber aus glücklich endenden Liebesgeschichten auf idyllischen Landsitzen in Cornwall. Wahre Romantik heisst, dass die oder der Angebetete eben gerade nicht erreicht werden kann. Dass es unter seiner oder ihrer Herzensnummer quasi keinen Anschluss gibt. Dass die Sehnsucht unerfüllt bleiben muss. Und in der Ausweglosigkeit endet. Wie in «079». Projektion ist alles. Träume. Ferne Verehrung.
Begonnen hat der Kult um die unerfüllt bleibende Liebe in unseren Breitengraden beim mittelalterlichen Minnesänger. Er sang jahrelang Liebeslieder für eine Frau, wenn ihr gefiel, was er sang, schenkte sie ihm ein kleines Liebespfand, ein Stück ihres Kleids zum Beispiel, und er war ihr noch mehr verfallen. So ungefähr ist es überliefert, die Lieder, die dabei entstanden, sind noch immer wunderschön. In Frankreich nannte man Minnesänger Troubadoure. So wie man lange in Bern die Mundartsänger Troubadoure nannte. Mani Matter war der berühmteste unter ihnen. Berner Bands wie Züri West, Patent Ochsner und Lo & Leduc stehen klar in Matters Nachfolge.
Die grössten Werke der Weltliteratur handeln von der Liebe. Die schönsten unter diesen sind wiederum hoffnungslos romantisch. Romeo und Julia werden von ihren verfeindeten Familien keine Zukunft gegeben und sie bringen sich um. Goethes «Werther» erschiesst sich aus Liebe zu einer unerreichbaren Hausfrau. In Emily Brontës «Sturmhöhe» verzehren sich die reiche Catherine und der arme Heathcliff so heftig nacheinander, bis Gewalt und Tod sie auf immer scheiden.
In «Madame Bovary» von Flaubert vergiftet sich Emma Bovary weil sich eine Liebesgeschichte nicht so entwickelt, wie sie sich das vorgestellt hat. In «Tristan und Isolde» (ein mittelalterlicher Roman und eine Wagner-Oper) verliebt sich Tristan in die Frau seines Königs – und sie sich in ihn –, die beiden haben keine Chance, je miteinander glücklich zu werden, aber auf ihren Gräbern wachsen eine Rebe und ein Rosenstock und verschlingen sich ineinander.
In «I schänke dir mis Härz» von Züri West kann Kuno Lauener nicht mit einer Prostituierten zusammen kommen, weil er kein Geld hat (gut, man könnte sich jetzt fragen, ob es nicht etwas sexistisch ist, einer Frau, die mit dem Liebemachen ihr Geld verdient, nichts ausser seinem Herzen anzubieten ... aber das fragen wir uns jetzt nicht).
Und in «079» verliebt sich eben ein junger Mann in eine Frauenstimme von der Auskunft und beschliesst, Jahre seines Lebens daran zu geben, sie zu finden. Wie eine hochmütige Prinzessin im Märchen stellt ihm die Stimme eine schier unmögliche Aufgabe. Sagt nicht einfach «nein», sondern «du weisch immer na nüt». So wie Igrid in «Game of Thrones» vor dem ersten Sex zu Jon Snow sagte: «You know nothing Jon Snow.»
Sie suggeriert ihm, dass er irgendwann später etwas wissen könnte. Aber was? Die Wahrheit über sie? Über sich selbst? Und überhaupt: Wer ist sie eigentlich? Könnten sie überhaupt irgendwas miteinander anfangen, wenn sie sich denn einmal sehen würden? All das spielt für ihn keine Rolle. Es zählt das Werben, die Suche, die Kultivierung der Sehnsucht wider alle Regeln einer emotionalen und zeitlichen Vernunft.
Klar kann man jetzt sagen: creepy Stalker! Aber dann könnte man auch gleich all die genannten Romane vergessen, all die tragischen Helden und Heldinnen. Es geht hier ja um ein Stück reinster Fiktion, um ein Genre, das von Lo & Leduc ganz konsequent durchexerziert wird: Im Moment, als die Verehrte nach jahrelangen Fehlversuchen endlich abnimmt, darf es, nach den Regeln der Romantik, nicht zur Erfüllung kommen. Statt dessen kommt das Tram und überfährt den telefonischen Minnesänger. Das ist, mit Verlaub, ziemlich gross.