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Krisenjahr 2015: Die Schweiz im Heile-Welt-Modus

Heidi (Anuk Steffen) und der Geissen-Peter (Quirin Agrippi) in der neuen Verfilmung des Klassikers.
Heidi (Anuk Steffen) und der Geissen-Peter (Quirin Agrippi) in der neuen Verfilmung des Klassikers.
Bild: ZODIAC PICTURES
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Heidi, Schellen-Ursli und die unstillbare Sehnsucht nach der heilen Schweiz

Erfolg für zwei «Heimatfilme» im Kino, Erfolg der SVP bei den Wahlen: Die Schweiz hat 2015 angesichts der Krisen in Europa in den Heile-Welt-Modus geschaltet. Die Realität aber wird uns unweigerlich einholen.
01.01.2016, 15:1601.01.2016, 16:47
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Für die Schweizer Kinos war 2015 ein glänzendes Jahr. Verantwortlich dafür sind internationale Blockbuster wie der neuste Bond oder die Fortsetzung der «Star Wars»-Saga – und zwei Produkte heimischen Schaffens. Die Verfilmung des Kinderbuchklassikers «Schellen-Ursli» hat bereits mehr als 300'000 Besucher angelockt und die Top 10 der ewigen Bestenliste erobert. Gar noch besser dürfte die neuste «Heidi»-Version abschneiden, die einen Traumstart hingelegt hat.

Beiden Filmen ist nicht nur die Tatsache gemeinsam, dass ihre Stoffe zum Kanon der hiesigen Volkskultur gehören. Sie bedienen die Sehnsucht der Zuschauer nach einer ländlichen, überschaubaren, vermeintlich gesunden Schweiz. Besonders deutlich ist dies beim Heidi der Fall, das in der fernen Grossstadt Frankfurt verkümmert und erst daheim beim Alpöhi wieder aufblüht.

Der Trailer von «Schellen-Ursli».
YouTube/C-FILMS AG

Der Erfolg solcher Filme ist nicht neu und entspricht doch perfekt dem Zeitgeist. «Heidi» und «Schellen-Ursli» sind das cineastische Begleitprogramm zum Sieg der SVP bei den Wahlen im Oktober. Im Jahr 2015, in dem Europa von Krisen erschüttert wurde, hat sich der Wunsch nach einem Rückzug in eine heile Schweiz verstärkt, die sich abnabelt von den Übeln dieser Welt.

Wir ziehen uns ins Private zurück und teilen dieses Privatleben auf digitalen Kanälen exzessiv mit der Aussenwelt. Wir träumen vom Dorfleben, obwohl die meisten Dörfer längst agglomässig zersiedelt wurden.

Dafür gibt es weitere Befunde: Das «Hoffnungsbarometer» der Vereinigung für Zukunftsforschung Swissfuture zeigt, dass ein harmonisches Privatleben für die Schweizerinnen und Schweizer das höchste der Gefühle ist. «Das Beschauliche, das Überschaubare und die Gemütlichkeit stehen wieder hoch im Kurs», sagte Swissfuture-Co-Präsident Andreas Walker zu 20 Minuten.

Die heutige Zeit bezeichnet Walker als «Neo-Biedermeier». Der Wahlsieg der SVP passe in dieses Bild: «Es soll bleiben, wie es ist, denken sich viele.» Entsprechend ambivalent ist laut dem Hoffnungsbarometer die Einstellung gegenüber Einwanderern. Sie werden als Bedrohung empfunden, etwa auf dem Arbeitsmarkt oder in den Sozialsystemen, gleichzeitig aber betrachtet man sie als Gewinn für die Wirtschaft. Biedermeier ohne Wohlstand – das dann doch nicht.

Die perfekte Ergänzung liefert eine Studie der Forschungsanstalt WSL. Rund drei Viertel der Schweizer Bevölkerung leben in der Stadt und der Agglomeration, aber eigentlich würde eine Mehrheit am liebsten auf dem Land wohnen. In einer WSL-Umfrage erhielt das Dorf als Wohnort die besten Noten, gefolgt von der Kleinstadt.

Der Durchschnittsschweizer träumt vom beschaulichen Familienleben im Grünen – auf diesen Nenner liesse sich die helvetische Befindlichkeit anno 2015 bringen. Die Widersprüche sind offensichtlich, ohne gleich mit der Scheidungsrate von 50 Prozent zu beginnen. Wir ziehen uns ins Private zurück und teilen dieses Privatleben auf digitalen Kanälen exzessiv mit der Aussenwelt. Wir träumen vom Dorfleben, obwohl die meisten Dörfer längst agglomässig zersiedelt wurden.

Elm im Kanton Glarus: Das Dorf als idealer Wohnort.
Elm im Kanton Glarus: Das Dorf als idealer Wohnort.
Bild: KEYSTONE

Die heile Welt der Schweizerinnen und Schweizer ist mehr Schein als Sein. Das zeigt sich auch in der realen Politik der SVP. Am letzten Tag einer für sie eher durchzogenen Wintersession hat die neue rechte Mehrheit im Nationalrat ihre Muskeln spielen lassen und den Zulassungsstopp für Ärzte beendet. Eine Machtdemonstration am untauglichen Objekt: Kommt es zu einer Ärzteschwemme, werden die Krankenkassenprämien noch stärker ansteigen und den Mittelstand belasten.

Die wachsende Kluft zwischen der ländlichen und der urbanen Schweiz ist ein ebenso vernachlässigtes wie brisantes Thema.

Das Signal ist eindeutig. Die Leute wählen SVP, weil sie sich eine heile, neutrale Schweiz mit einer harten Asyl- und Ausländerpolitik erhoffen. In Wirklichkeit bekommen sie einen Angriff auf die freie Arztwahl, auf die Altersrenten und eine Wirtschaftspolitik, die in erster Linie den Reichen dient. Es ist das bekannte Doppelspiel, das die SVP seit Jahren erfolgreich praktiziert: Die «kleinen» Leute wählen ausgerechnet eine Partei, die gegen ihre eigenen Interessen politisiert.

Das bleibt nicht ohne Folgen für das Land. Neben der Heile-Welt-Schweiz existiert eine andere Realität: Es sind jene Menschen, die das Stadtleben vorziehen und eine Öffnung gegen aussen nicht als Bedrohung, sondern als Chance betrachten. Die beiden Schweizen driften seit einigen Jahren auseinander. Nun hat sich die Entwicklung verstärkt: In den städtischen Gebieten hat bei den Wahlen entgegen dem nationalen Trend die Linke zugelegt.

Bestes Anschauungsmaterial liefert ein Film, der ganz anders ist als «Heidi» und «Schellen-Ursli»: Die SRF-Doku «Die Macht des Volkes

», die am 18. Dezember ausgestrahlt wurde. Sie porträtiert unter anderem zwei junge Frauen, eine SVP-Gemeinderätin aus Aarburg (AG) und eine parteilose Studentin aus Zürich. Sie leben im gleichen Land, sprechen die gleiche Sprache und bewegen sich dennoch in vollkommen unterschiedlichen Welten.

«Heidi» und «Schellen-Ursli» sind nicht umsonst Stoffe aus der Vergangenheit. Das Heile-Welt-Bild, das sie bedienen, passt schlecht zum globalisierten 21. Jahrhundert.

Man hätte sich gewünscht, der Film wäre auf diesen Gegensatz fokussiert geblieben, statt sich an der SVP und ihren Attacken auf die Rechtsstaatlichkeit abzuarbeiten und dabei zweifelhafte Kampfbegriffe wie «Volksdiktatur» zu verwenden. Die wachsende Kluft zwischen der ländlichen und der urbanen Schweiz ist ebenso vernachlässigtes wie brisantes Thema. Das zeigen nicht zuletzt die gereizten Reaktionen von SVP-Anhängern, die sich ihr Idealbild einer Schweiz als einig Volk von Brüdern (und Schwestern) nicht verderben lassen wollen.

Die Konfrontation mit der Realität aber wird kommen, eher früher als später. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Die Schweiz ist keine Insel der Seligen, sie kann sich von der Welt nicht abkoppeln, so lange sie mit ihr Geschäfte machen will. Schon 2016 werden wichtige Weichen gestellt: Im neuen Jahr muss die Schweiz sich darüber im Klaren werden, wie sie ihr Verhältnis zur EU gestalten und ob sie weiter auf den bilateralen Weg setzen will.

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«Heidi» und «Schellen-Ursli» sind nicht umsonst Stoffe aus der Vergangenheit. Das Heile-Welt-Bild, das sie bedienen, war schon damals eine Utopie. Das gilt erst recht für das globalisierte 21. Jahrhundert. Kürzlich lief übrigens noch ein Schweizer Film in den Kinos an. Er nennt sich «Heimatland» und schildert eine dystopische Schweiz, über der eine dunkle Wolke aufziehen. Ein deutlicher Kommentar auf den Vormarsch der SVP.

Muss man erwähnen, dass nur wenige ihn sehen wollten?

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73 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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goschi
01.01.2016 16:19registriert Januar 2014
Die Sehnsucht vieler Schweizer nach der Geranien-Schweiz, als alle noch gemütlich in kleinen Bauerndörflein lebten, und die es in der Realität nie gab.

Ich mache auch in meinem Umfeld wiederholt die gleiche Beobachtung, die Herr Blunschi hier schön aufführte, es wird sich von der Realität abgeriegelt und das Reduit der Geranien geschaffen, eine Traumwelt, die nicht existieren kann.

Vielleicht das allgemein aktuell oft beobachtbare Symptom der Überforderung mit der komplexität der Realität?
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Madison Pierce
01.01.2016 16:26registriert September 2015
Ich kann der Wunsch nach einem heilen Leben im Dorf nachvollziehen: in den letzten Jahren sind immer mehr Leute zugewandert, die Wohnungen wurden teurer, die Landschaft zugebaut, die Züge und Strassen überfüllt. Dem Bürger hat man gesagt, das seien kleine Nachteile, in Kauf zu nehmen für den grossen Vorteil des Wirtschaftswachstums. Nur hat davon der Bürger nichts. Mehr Wirtschaft auf mehr Leute verteilt, gibt wieder gleich viel für jeden. Nur einige wenige profitieren. Da sehnt man sich halt zurück, auch wenn früher nicht alles besser war.
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obi
01.01.2016 16:54team watson
Grossartiger Artikel und einer der mir aus dem Herz spricht. Diese Verklärung des Ländlichen geht mir seit je her auf den Wecker. Zu einem ähnlichen Thema, anno 2008: http://www.20min.ch/life/tv/story/Und-ewig-lockt-die-heile-Welt-13460337
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