Will ein Patient sterben, darf ein Schweizer Hausarzt helfen, muss es jedoch nicht. Die hiesigen Gesetze definieren nicht, wie alt oder krank jemand dafür sein muss. Es ist eine der liberalsten Regelungen der Welt.
Vielen Ärzten ist dabei aber nicht wohl. Sie orientieren sich deshalb an den Ethik-Richtlinien der Schweizer Akademie für Medizinische Wissenschaften (SAMW). Auch die Schweizer Ärztevereinigung (FMH) erkennt diese Guidelines in der Regel an.
Bis dato, nach den Richtlinien von 2004, lautete das Ethik-Credo: Ärzte sollen nur Suizidhilfe leisten, wenn eine tödliche Krankheit vorliegt. Anfang Juni hat das SAMW-Gremium jedoch neue Richtlinien publiziert. Es definiert nun nicht mehr eine tödliche Krankheit als Voraussetzung, sondern ein «unerträgliches Leiden». Ausserdem wird der Geltungsbereich auf Minderjährige, geistig beeinträchtigte und psychisch kranke Personen ausgedehnt.
Am Donnerstag werden rund 200 Delegierte der FMH entscheiden, ob sie die Änderung in ihre Standesordnung übernehmen wollen.
Wird die Neufassung in die FMH-Standesordnung überführt, könnte künftig vom Arzt auch bei nicht tödlichen Krankheiten Beihilfe zum Suizid geleistet werden. Zum Beispiel im Fall von Patienten, die unter einer schweren Depression leiden, keine Hilfe beantragen möchten und ihren Zustand als unerträglich bezeichnen.
Ein negativer Entscheid wäre ein Novum, da seit den Achzigerjahren alle SAMW-Richtlinien in die Standesordnung aufgenommen wurden.
In der Definition des schwammigen Begriffs «unerträgliches Leiden». Denn Leiden ist subjektiv. Jeder Mensch empfindet anders. Der Begriff eröffnet laut dem Zentralvorstand der Schweizer Ärztevereinigung (FMH) eine Grauzone. Präsident Jürg Schlup: «Es wird vom Arzt verlangt, ein persönlich verantwortetes Urteil darüber zu fällen, ob das Leiden des Patienten unerträglich ist.» Dabei sei «unerträgliches Leiden» ein subjektiv geprägter und rechtlich undefinierter Begriff.
Insbesondere bei psychischen Erkrankungen wie schweren Depressionen könne der Lebenswille durch die Krankheit beeinträchtigt sein und Patienten könnten aufgrund ihrer Erkrankung zu Suizidgedanken neigen. Hier sei es ethisch bedenklich, Suizidbeihilfe zu leisten.
Der Arzt stehe dabei in einer Dilemmasituation zwischen der Achtung des Patientenwillens einerseits und seiner persönlichen Gewissensentscheidung andererseits. Gerade deshalb sei eine Sterbehilferegelung nötig, die sich auf definierte Rechtsbegriffe stützt, die objektiv überprüfbar sind.
Neben dem FMH-Vorstand hat auch die Hippokratische Gesellschaft Schweiz klar Stellung gegen die Neufassung bezogen.
Michelle Salathé, stellvertretende Generalsekretärin der SAMW und Leiterin Ressort Ethik: «Es trifft zu, dass für unerträgliches Leiden keine objektiven Kriterien bestehen. Für das Gegenüber kann es aber mehr oder weniger gut nachvollziehbar sein, dass eine Person leidet. Um Suizidhilfe zu leisten, muss der Arzt also das Leiden von aussen nachvollziehen können.»
Die Richtlinien sähen zudem eine Schutzmassnahme vor: «Das Leiden muss durch Krankheit oder eine funktionelle Einschränkung verursacht werden – ein Teenager mit Liebeskummer würde das Kriterium also nicht erfüllen.»
Überdies sei Suizidhilfe keine medizinische Leistung, auf die Patienten einen Anspruch erheben könnten. Salathé: «Für Ärzte, die es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren können, Suizidhilfe zu leisten, ändert sich durch die Richtlinien nichts.»
Die neuen Richtlinien enthielten ausserdem Hilfestellungen zum Gespräch mit Patienten und Angehörigen, wenn eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird oder zur Planung der letzten Lebensphase. «Es wäre schade, wenn all diese Neuerungen nicht in der Standesordnung sind, weil das Kapitel Suizidhilfe die Meinungen so sehr teilt.»
Rechtlich hätte ein Nein zur Aufnahme der neuen Guidelines kaum Konsequenzen: Die Gerichte sind weder an den Ärztekodex noch an die SAMW-Richtlinien gebunden.
Doch gerade deshalb kommt der Standesordnung für diesen Bereich eine besonders hohe Bedeutung zu. Die meisten Ärzte orientieren sich daran.
Wie die FMH-Delegierten am Donnerstag stimmen werden, bleibt offen. Der interne Meinungsbildungsprozess ihrer Mitglieder sei immer noch in Gang, teilt die Vereinigung mit.