An der miserablen Qualität und Gehässigkeit unserer aktuellen gesellschaftlichen Debatten kann man ziemlich gut ablesen, dass es um unsere Konsensfähigkeit nicht allzu gut bestellt ist (vgl. Teil III). Alles scheint zumindest als Kampf ausgetragen zu werden. Einer läuft zwischen Männern und Frauen, einer zwischen Einheimischen und Ausländern, einer zwischen Weissen und Schwarzen. Und alle lassen sich im Grunde auf ein einfaches Muster reduzieren: Auf der einen Seite stehen die Täter oder die Privilegierten und auf der anderen Seite finden sich die Opfer, die auf irgendeine Weise von den Privilegierten unterdrückt oder diskriminiert werden.
Versteht mich bitte nicht falsch, ich will nicht sagen, dass unsere Welt frei von Unterdrückung und Diskriminierung ist. Und ebenso wenig, dass man nicht dagegen angehen soll. Aber ein pauschal anklagender Hashtag wie #allmenaretrash bringt einzig mehr Wut in die Debatte. Man kann die Reaktionen darauf als Beweis für die männliche Gewalt an Frauen sehen. Oder man nimmt sie als Hinweis, dass die Debatte falsch geführt wird. Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus beidem.
Ein derart moralisierender Schulddiskurs muss irgendwann in starke Emotionen ausarten. Entweder man bekommt als Kollektiv – Schweizer, Weisser, Mann, etc. – eine Schuld zugewiesen, oder man hat selbst eine Erfahrung gemacht, in der man Opfer einer strukturellen Ungerechtigkeit wurde.
Hast du keine solche Geschichte, darfst du nicht mitreden. Bist du nicht queer, weisst du nicht, worunter Queere leiden. Bist du nicht schwarz, rede nicht von ihnen. Mit Phrasen wie «Ich als XY» verleiht man sich selbst die Deutungshoheit, während der ganze Rest einfach von der Diskussion ausgeschlossen wird. Man spricht ihm das Verstehen ab, ja manchmal sogar das Mitfühlen.
Hannah Arendt versuchte in ihren Schriften ein Leben lang, eine Erklärung zu finden, wie es zum Holocaust kommen konnte. Und ebenso formulierte sie Ansätze, wie so etwas in Zukunft verhindert werden kann. Denn sie verlor nie das, was sie «amor mundi» nannte, die Liebe zur Welt. Und diese damals in Scherben liegende Welt wollte sie wieder ganz machen.
Mutig wie niemand sonst stellte diese Frau alle unbequemen Fragen ihrer Zeit, dafür wurde sie von jüdischer Seite und von linken Kreisen der Unsensibilität und Arroganz bezichtigt. «Mit dem ganzen Stolz ihrer Intelligenz» würde sie «über die historische Erfahrung und die aktuellen Empfindungen ihrer Zeitgenossen hinwegschreiten.»
Doch darum ging es Hannah Arendt nicht. Ihr ging es ums Verstehen. Es ist ihr immer nur darum gegangen. Im wahren Verstehen oder zumindest im redlichen sich Bemühen darum sah sie die Lösung für ein friedliches Zusammenleben. Man solle sich dafür in den anderen hineinversetzen.
Hannah Arendt sah im Pluralismus einer Gesellschaft keine Gefahr. Ganz im Gegenteil sogar. Ihre Erfahrung mit der Diktatur in Nazideutschland, mit einer gleichgemachten Volksgemeinschaft auf der einen und der totalen Gewalt auf der anderen Seite, hat sie zu einer Verfechterin der politischen Freiheit gemacht. Und diese folgt für sie immer nur aus den Unterschieden der Menschen. Erst wenn zwei verschiedene Meinungen öffentlich aufeinanderprallen, öffnet sich ein Zwischenraum, der nicht existiert, wenn beide derselben Meinung sind, schrieb sie.
Dieser Zwischenraum ist für Hannah Arendt das eigentlich Politische. Hier wird kommuniziert, diskutiert und gestritten, hier nimmt der Bürger aktiv an Entscheidungen teil, hier wird gemeinsam eine Welt erschaffen.
Aber können diese Zwischenräume auch zu gross werden, sodass überhaupt keine Verständigung mehr möglich ist? Der Multikulturalismus unserer westlichen Gesellschaften ist seit der Nachkriegszeit durch neue Konflikte und neue Migrationsströme, aber auch durch die Globalisierung noch gestiegen. Teilen wir alle denselben Wertehorizont?
In diesem Zusammenhang ist der Gedanke einer «Leitkultur», an die es sich anzupassen gilt, nach wie vor wach. Nehmen wir einmal an, es gäbe eine solche, wie ist sie definiert?
Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ist der Ansicht, dass eine reine Multikulti-Gesellschaft nicht überleben werde. Eine Nation brauche eine Leitkultur, eine, die Identität verspricht, ohne jedoch gleichzeitig andere auszuschliessen oder zu unterdrücken.
Sprich eine, die also wahrhaft einhält, was sie in ihrer Verfassung – sofern sie liberal ist – schon lange verspricht: Freiheit und Gleichheit für alle.
Also keine Identität, die den «Ausländer» pauschal als Feind und Bedrohung unserer Freiheit konstruiert, noch eine, die vor lauter Gleichheitsforderung für alle Gruppenidentitäten ein spezielles Gesetz fordert.
Die Präambel unserer Bundesverfassung fasst die Werte schön zusammen, für die wir einstehen sollten:
«Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizervolk und die Kantone, in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung, im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben, im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen, gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung ...»
Eine Richtigkeitsgewähr kann man daraus allerdings nicht ableiten. Es gibt keine objektiven Werte, die ewig und universal gültig sind. Genauso wenig gibt es rein subjektive Werte, die ein Einzelner aus sich selbst heraus schöpft. Wir haben diese Werte als Gesellschaft geformt, indem wir sie leben und empfinden. Das macht sie allerdings auch abhängig vom Zeitgeist.
Und dieser scheint heute in Aufruhr zu sein. So sehr, dass man um den gesellschaftlichen Konsens fürchtet. Denn wenn dieser nicht mehr gegeben ist, lässt sich auch das Rechtsprinzip nicht mehr aufrechterhalten.
In Fragen der Moral, in Fragen des richtigen Handelns können wir uns auf nichts Äusseres stützen. Moral existiert ausserhalb unseres Denkens nicht. Da gibt es kein Richtig oder Falsch. Wir können also nur darauf hoffen, dass wir uns im Rahmen der Vernunft Gesetze geben, die für alle wünschenswert sind – so wie es Kant einst beschrieb (vgl. Teil I). Und dass wir mit unserer politischen Freiheit, so wie sich Hannah Arendt das ersehnte, verantwortungsvoll umgehen.
Der deutsche Soziologe Max Weber hat in seinem berühmten Aufsatz «Politik als Beruf» (1919) zwei verschiedene ethisch orientierte Handelsweisen beschrieben; die eine nennt er gesinnungsethisch, die andere verantwortungsethisch. Die beiden Begriffe schliessen sich nach Weber ganz und gar nicht aus, auch wenn heute von gewissen Kreisen gern ein klares Entweder-Oder herbeikonstruiert wird.
Den Gesinnungsethikern wird vorgeworfen, sich vor lauter naivem Gutmenschentum nicht um die Folgen ihres politischen Handelns zu scheren – Stichwort «Willkommenskultur». Die selbsternannten Verantwortungsethiker wiederum beanspruchen für sich, Lösungen anzubieten; Flüchtlinge an der Küste Libyens zu internieren beispielsweise, sie um keinen Preis ins eigene Land zu lassen, alle Mittelmeerrouten zu sperren. Dabei geht es manchen aber kaum um Verantwortung, sondern vielmehr um Wählermobilisierung.
Weber sprach von VerantwortungsETHIK. Das Mitgefühl ist auch hier entscheidend. Verliert man es, muss man sich nicht wundern, wenn Pegida-Anhänger in Dresden «Absaufen! Absaufen!» schreien – und damit ein Rettungssschiff mit 234 Flüchtlingen an Bord meinen.
Wir brauchen Mitgefühl, keine hinter dem grossen Wort Verantwortung sich versteckende Unmenschlichkeit, keine Wohlstandserkaltung.
Wir dürfen im Lärm all dieser Empörungshashtags und einseitiger Schuldzuweisungen nicht taub werden für die wahre Gefahr.
Wir dürfen nicht abstumpfen.