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Wo Ausländer etwas zu sagen haben – und wo nicht

Die Buergerinnen und Buerger von Vals stimmen per Handaufhalten ueber die Strassensanierung ab, aufgenommen am Freitag, 18. Maerz 2016, in der vollbesetzten Turnhalle im Buendnerischen Vals. Die gut b ...
Vals in Graubünden bietet Bauherren seinen Gneis, Gästen seine Therme und Ausländern das Stimmrecht.Bild: KEYSTONE

Wo Ausländer etwas zu sagen haben – und wo nicht

Selbst in links-grün dominierten Städten wie Basel ist es chancenlos: Doch weshalb kennen so viele Bündner Gemeinden das Ausländerstimmrecht?
13.05.2019, 05:27
Daniel Fuchs / ch media
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Nur ganz in der Westschweiz und ganz im Osten können Ausländer abstimmen, wählen und sich selbst wählen lassen. Dazwischen: Nichts, Ausschluss einer breiten Bevölkerungsschicht vom politischen Prozess. Und das, obwohl sie Steuern bezahlen muss.

«Ja was», entfährt es Reto Jörger, als er in Vals GR das Telefon entgegennimmt. «Ich hätte gedacht, in Zürich oder sonst wo in der Deutschschweiz können Ausländer auf Gemeindeebene politisch ebenso mitentscheiden, genau wie bei uns.» Jörger leitet die Verwaltungsgeschicke im Bündner Bergdorf. Vals ist eine von 25 Gemeinden in Graubünden, in denen auch Menschen ohne Schweizer Pass politisch mitbestimmen dürfen.

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Idylle in Vals. Mit Berglandschaft, Stausee und Ausländerstimmrecht.Bild: KEYSTONE

Was selbst in links-grün dominierten Städten wie Basel vor bald zehn Jahren abgeschmettert wurde, ist in Graubünden unspektakuläre Normalität. Und bald schon könnten grosse Gemeinden mit internationaler Ausstrahlung hinzukommen. Geht es nach dem St. Moritzer Gemeindepräsidenten Christian Jott Jenni, führt der Engadiner Ort das Stimmrecht für Menschen ohne Schweizer Pass ebenso ein. Diese sollen wählen und abstimmen, sich auch zur Wahl stellen können. Einzige Bedingung: Sie brauchen eine Niederlassungsbewilligung, leben also bereits seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz.

Der Bündner Sonderweg

Auch im zweiten Bündner Ort mit internationaler Bekanntheit, Davos, sollen Ausländer das Stimmrecht erhalten. Dort aber stockt nun der Prozess, wie Recherchen dieser Zeitung zeigen. Die Davoser hatten geplant, das Ausländerstimmrecht elegant in die neue totalrevidierte Verfassung zu integrieren, über die das Stimmvolk noch dieses Jahr abstimmen soll. So hatten das auch andere Bündner Gemeinden getan. Und nur so, das zeigt die Erfahrung, hat das Anliegen Ausländerstimmrecht bei Stimmbürgern in der Schweiz überhaupt gute Chancen, durchgewinkt zu werden.

Doch die Davoser Politiker fürchten nun genau das Gegenteil. Die neue Gemeindeverfassung ist ein Riesenprojekt. Sie soll die alte, heuer 100 Jahre alte Verfassung ersetzen. Um diesen Plan nicht zu gefährden, sollen Verfassung und Ausländerstimmrecht der Davoser Stimmbevölkerung nun getrennt vorgelegt werden. Ein Beschluss ist zwar noch nicht gefällt, in den beiden vorberatenden Parlamentskommissionen fanden sich aber laut Insidern Mehrheiten für diesen Weg. Als Erstes sollen die Davoserinnen und Davoser also über die neue Verfassung abstimmen. Davon ausgeklammert bliebe die Einführung des Ausländerstimmrechts. Darüber würde zu einem späteren Zeitpunkt entschieden.

Damit ginge Davos in Graubünden neue Wege. Denn der Kanton Graubünden sticht in der Deutschschweiz besonders hervor. Rund ein Viertel der Gemeinden kennt in diesem Landesteil das Ausländerstimmrecht auf kommunaler Ebene. Neben Graubünden haben das Ausländerstimmrecht in der Deutschschweiz gerade einmal vier Gemeinden im Kanton Appenzell-Ausserrhoden eingeführt. Fast überall wurde das Ausländerstimmrecht als Teil einer neuen Gemeindeverfassung durch die Abstimmung geschleust. In Gemeinden wie Vals, Scuol, Bonaduz oder Arosa versichern Behördenmitglieder dieser Zeitung, das Thema Ausländerstimmrecht habe gar nie grössere Diskussionen ausgelöst.

Stimmrecht: In diesen Gemeinden reden Ausländer mit
Geht es um das Ausländerstimmrecht, gibt es in erster Linie einen Röstigraben. Gerade einmal in zwei Kantonen, Jura und Neuenburg, dürfen Ausländer auf kantonaler Ebene abstimmen und wählen.

In den Kantonen Neuenburg, Jura, Waadt, Genf und Freiburg haben Gruppen von Ausländern das Stimmrecht auf Gemeindeebene. In der Deutschschweiz dagegen gewähren einzig Graubünden, Appenzell-Ausserrhoden und Basel-Stadt ihren Gemeinden die Einführung des Stimmrechts für Ausländer. Der Entscheid obliegt aber hier bei den Gemeinden.

In der Deutschschweiz haben das Ausländerstimmrecht eingeführt: Rehetobel, Speicher, Trogen und Wald (AR); Albula/Alvra, Arosa, Bergün Filisur, Bever, Bonaduz, Bregaglia, Casti-Wergenstein, Cazis, Conters i. P., Domleschg, Donat, Fideris, Flerden, Luzein, Jenaz, Masein, Rheinwald, Safiental, Sagogn, Scuol, Sils i. D., Sumvitg, Surses, Tschappina, Vals (GR).

Corsin Bisaz, Staatsrechtler am Zentrum für Demokratie Aarau und selbst Bündner, hat sich mit dem Thema befasst und führt die hohe Ausländerstimmdichte in seinem Heimatkanton vor allem auf eines zurück: «In Graubünden wird die Gemeindeautonomie besonders hoch gehalten», sagt er. Mit der Einführung des fakultativen Ausländerstimmrechts auf kommunaler Ebene 2003 habe der Kanton die Gemeindeautonomie sogar noch gestärkt. «Er gab Gemeinden damals die Möglichkeit, das Ausländerstimmrecht einführen zu können, hat ihnen die Ausgestaltung dessen aber komplett überlassen», sagt Bisaz. Anders in Appenzell-Ausserrhoden: Wollten Gemeinden Ausländern dort das Stimmrecht geben, dann müssten sie es so umsetzen, wie es der Kanton vorgegeben habe.

Befürworter des Ausländerstimmrechts in Davos argumentieren vor allem mit der internationalen Ausrichtung der Stadt, die Gastgeberin der Jahrestreffen des Weltwirtschaftsforums WEF ist. Zudem sind mit mehreren Forschungsbetrieben, darunter das Lawinenforschungsinstitut SLF, mehrere hundert ausländische Forscher in Davos angesiedelt. Sie sollen ebenso mitreden dürfen wie die Einheimischen.

Nehmen Ausländer überhaupt teil?

In anderen Bündner Gemeinden liegt der Fall etwas anders: In St. Moritz würden vom Ausländerstimmrecht vor allem Italiener und Portugiesen profitieren. Manche von ihnen leben teilweise seit Jahrzehnten im Engadin und arbeiten in den Tourismusbetrieben, etwa in den Luxushotels.

In Scuol wiederum sagt Gemeindeschreiber Reto Jörger: «Wir haben hier viele Deutsche und Österreicher. Sie leben schon lange hier, nehmen am Dorfleben teil und bezahlen ihre Steuern. Dann sollen sie auch mitbestimmen dürfen.» Vals hat seinen Ausländern im Jahr 2012 das Stimmrecht gegeben. Bedingung hier ebenfalls die Niederlassungsbewilligung sowie eine Mindestwohndauer im Dorf von zehn Jahren. Eine relativ hohe Hürde, von den 730 Stimmberechtigten haben nur ungefähr 30 keinen Schweizer Pass.

Sollen Ausländer, die in der Schweiz leben, abstimmen und wählen dürfen?

Eine von ihnen ist die Deutsche Uda Natterer. «Ich finde es gut, dass Bürger hier abstimmen können. Anders als in Deutschland, wo man nur einem Politiker seine Stimme geben kann, der dann macht, was er will», sagt sie, nachdem sie in Vals das Telefon entgegennimmt. Uda Natterer und ihr Mann sind seit 1966 regelmässig in Vals, erst als Feriengäste, seit elf Jahren mit festem Wohnsitz.

Doch macht Uda Natterer von ihrem Recht auch Gebrauch? Kaum, wie sie einräumt. «Die Prioritäten liegen aktuell etwas anders, das demokratische Recht wahrzunehmen, ist auch anstrengend.» Sie wünscht sich, dass sie sich beim nächsten Anlass aufraffen und an der Abstimmung oder Gemeindeversammlung teilnehmen kann.

Uda Natterer ist ein typischer Fall. Das zeigen Untersuchungen zur Beteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund bei Wahlen und Abstimmungen in der Schweiz. Ihre Stimm- und Wahlbeteiligung ist generell tiefer als diejenige von Schweizern. Das zeigte jüngst eine Untersuchung in Genf, wo in allen Gemeinden das Ausländerstimmrecht gilt. Besonders tief erwies sich dort die Stimmbeteiligung bei Portugiesen, Spaniern und nichteuropäischen Staatsbürgern. Die Italiener, Franzosen und restlichen Westeuropäer wiesen aber eine nahezu ähnliche Stimmbeteiligung auf wie die Schweizer.

Zwar begrüssen Ausländerinnen wie Uda Natterer das Recht, mitbestimmen zu können. Ob sie es dann aber auch tatsächlich tun, ist eine andere Frage. Ein weiteres Indiz: Weder in Vals noch in Arosa, Bonaduz oder Scuol sitzt eine einzige Person ohne Schweizer Staatsbürgerschaft in einem öffentlichen Amt. Ausländer lassen sich also auch nicht für den Gemeinderat oder für einen Sitz in der Schulkommission aufstellen. Und das, obwohl sie das könnten.

Theoretisch ist also möglich, dass dereinst ein Ausländer das Amt des Gemeindepräsidenten eines Orts wie Vals, St. Moritz oder Davos bekleidet. Ein Nicht-Schweizer als Gemeindepräsident einer Gemeinde anderswo in der Deutschschweiz? Kaum denkbar. (aargauerzeitung.ch)

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57 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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fidget
13.05.2019 09:22registriert Dezember 2018
Ich halte nichts vom Ausländerstimmrecht. Es spielt auch keine Rolle, ob sie schon viele Jahre hier leben und am Dorfleben teilnehmen. In letzter Konsequenz haben sie sich dennoch nicht zur Schweiz bekannt, indem sie sich einbürgern lassen. Was ist der Grund dafür? Wer mitbestimmen möchte, der soll sich regulär einbürgern lassen, andernfalls muss man damit klar kommen was bestimmt wird. Von mir ein klares Nein zum Ausländerstimmrecht.
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Fip
13.05.2019 08:07registriert April 2019
Es geht eh nur der oder die an die Abstimmen, wo sich für die Gemeinde und ihre Belange interessiert.
Und der Portugiese, der seit zig Jahren den Schnee wegschaufelt, weiss wohl eher wie ein Ort tickt als irgendein frisch zugezogener aus dem Unterland!
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Joe "Ich schlug die Sozialisten" Biden
13.05.2019 07:38registriert Juli 2017
Ausländer dürfen bereits in der Schweiz bei allem abstimmen, sobald sie den Schweizer pass bekommen.
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