Für SRG-Freunde war es ein Schlag ins Gesicht: «57 Prozent Ja zur No-Billag-Initiative», verkündete die SonntagsZeitung gestern auf ihrer Frontseite. Nur 34 Prozent beabsichtigten, das Volksbegehren abzulehnen, schrieb die Zeitung mit Verweis auf eine «repräsentative Umfrage von Marketagent.com Schweiz».
Bei genauerem Hinschauen zeigt sich jedoch: Die Resultate sind mit Vorsicht zu geniessen.
An der Online-Umfrage nahmen nach Angaben des Umfrageinstituts Marketagent.com 1010 Personen teil, die nach den Kriterien Alter, Geschlecht und Sprachregion ausgewählt wurden. Insbesondere bei den Altersgruppen wirft die Stichprobe jedoch Fragen auf. So wurden lediglich Personen bis 65 Jahre berücksichtigt – ältere Teilnehmer weist die Studie nicht aus.
«Die Rentner bei einer Abstimmungsumfrage auszuklammern, macht keinen Sinn», sagt Thomas Milic, Dozent für Methoden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich. Er verweist darauf, dass über 65-Jährige von allen Altersgruppen statistisch gesehen am häufigsten an Abstimmungen teilnehmen. «Ihre Stimmen fallen also stark ins Gewicht.»
Dies umso mehr, weil sich das Mediennutzungsverhalten der Senioren von jenem der jungen Stimmbürger unterscheiden dürfte. «Es wäre also plausibel, anzunehmen, dass sie in der Billag-Frage auch anders stimmen als die jüngere Generation.»
Während die Rentner in der Umfrage gar nicht berücksichtigt wurden, sind laut dem Studien-Steckbrief fünf Prozent der Teilnehmer zwischen 14 und 19 Jahre alt. Dies sorgte im Netz für einigen Spott: «Wir rufen neuen Anbietern, die aggressiv und mit Dumpingpreisen in einen neuen Markt eindringen wollen, etwas in Erinnerung: In diesem Land liegt das Stimm- und Wahlrecht bei 18 Jahren», schrieb Mark Balsiger in einem Blog-Eintrag zum Thema. Der Politikberater ist Kampagnenkoordinator des Vereins «NEIN zum Sendeschluss», der gegen die No-Billag-Initiative ankämpft.
Jürg Gujan, Geschäftsführer von Marketagent.com Schweiz, betont auf Anfrage jedoch, Personen unter 18 Jahren seien nicht befragt worden. Bei der Altersklasse 14 bis 19 handle es sich um eine Standardkategorie.
Die Studie sei «repräsentativ für Personen der Deutsch- und Westschweiz im Alter von 18 bis 65 Jahren», so Gujan. Weil im Rahmen derselben Umfrage noch verschiedene andere, nicht-politische Themen abgefragt worden seien, sei die Altersklasse der Rentner nicht im Fokus gestanden.
Neben den Senioren sucht man in der Umfrage auch eine zweite Bevölkerungsgruppe vergebens: die Tessiner. Die Befragung berücksichtigt lediglich Personen der Deutsch- und der Westschweiz.
Dies sei im methodischen Steckbrief von Marketagent transparent und sauber ausgewiesen, sagt Thomas Milic. «Aus wissenschaftlicher Sicht ist es kein Problem, sich auf diese Sprachregionen zu beschränken – dann müssen die Ergebnisse aber auch entsprechend interpretiert werden.»
Will heissen: Es können lediglich Aussagen über die Stimmabsichten der Deutschschweizer und Romands getroffen werden. «Will man die Resultate hingegen auf die gesamte Schweiz beziehen, fehlen ohne das Tessin rund fünf Prozent – und die könnten in der SRG-Frage durchaus entscheidend sein.»
Die Westschweizer Stimmbürger gelten als SRG-freundlicher als jene in der Deutschschweiz. Zur Erinnerung: Als wir vor rund zwei Jahren über das neue Radio- und TV-Gesetz abstimmten, erzielte dieses in Genf, Neuenburg und in der Waadt Zustimmungswerte von über 60 Prozent. Viele Deutschschweizer Kantone lehnten es hingegen klar ab.
Unter diesen Vorzeichen überrascht es, dass die Marketagent-Umfrage in der Romandie mit 59 Prozent Ja höhere Zustimmungswerte ausweist als in der Deutschschweiz (57 Prozent Ja). «Ich kann aus der Ferne nicht sagen, ob die Zahlen richtig oder falsch sind», so Thomas Milic. Zumindest seien die Ergebnisse aber «kontraintuitiv» und stimmten nicht mit den bisherigen Erfahrungen überein.
Auch Jürg Gujan von Marketagent kann nicht erklären, warum die Zustimmung in der Romandie höher ausfällt als in der Deutschschweiz. «Im Studiendesign wurde nicht nach Gründen für die Zustimmung oder Ablehnung für die Initiative gefragt.»
Bei der Umfrage handelte es sich um ein «Computer Assisted Web Interview». Die 1010 Teilnehmer haben online einen Fragebogen ausgefüllt, der sechs geschlossene Fragen umfasst.
Auf seinem Blog kritisiert No-Billag-Gegner Mark Balsiger die Methodik scharf. «Bei Online-Umfragen machen erfahrene Demoskopen Samples mit 10'000 Personen oder mehr», schreibt er. Die Repräsentativität der Marketagent-Umfrage dürfe damit «in Zweifel gezogen werden».
Weniger eng sieht es Thomas Milic, der als Mitarbeiter des Forschungsinstituts Sotomo selber ebenfalls Online-Umfragen zu politischen Themen durchführt. «Die Fallzahl an sich ist kein Problem – klassische, repräsentative Telefonumfragen haben oft auch Samples von rund tausend Teilnehmern.»
Entscheidend sei, dass die Teilnehmer bewusst aufgrund bestimmter Kriterien ausgewählt werden, sodass die Stichprobe der Struktur der Stimmbevölkerung entspricht. «Hier sehe ich – mit Blick auf die bereits erwähnte Vernachlässigung der Rentner – das grössere Problem.»
Doch kann eine reine Online-Umfrage die Schweizer Stimmbevölkerung überhaupt adäquat abbilden? Jede Methode habe ihre Schwächen, so Milic. «Digital-affine Bürger sind in Online-Befragungen übervertreten, während bei den klassischen, auf herkömmlichen Telefonverzeichnissen beruhenden Telefonumfragen nur Personen erreicht werden können, die eine registrierte Festnetznummer haben.»
Solche Verzerrungen seien heutzutage kaum zu vermeiden – allerdings könnten sie mittels einer Gewichtung der Daten in vielen Fällen noch korrigiert werden.
Bei Marketagent heisst es, die Auswahl der Befragungsteilnehmer sei über ein Stichprobenpanel erfolgt. «Da sich die Omnibus-Befragung nicht rein auf die No-Billag-Initiative bezog, konnte sichergestellt werden, dass die Selektion der Teilnehmer und die Wahl des Studiendesigns die Befragungsergebnisse nicht beeinflussen.»
Noch drei Monate dauert es, bis die Schweizer Stimmbürger über die No-Billag-Initiative abstimmen. Resultate von Abstimmungsumfragen sind in einem solch frühen Stadium generell mit Vorsicht zu geniessen.
«Oft haben Volksinitiativen einen verheissungsvollen Titel, mit dem sich zu Beginn viele Stimmbürger identifizieren können», so Milic. Sobald die Gegner ihre Kampagne starteten und auf negative Auswirkungen der Vorlage aufmerksam machten, erodiere der Ja-Anteil in der Regel.
Ob und wie stark die No-Billag-Initiative noch an Rückhalt verliert, werde sich zeigen. «Gegen eine starke Abnahme des Ja-Anteils spricht, dass über die Initiative schon sehr viel gesagt und geschrieben wurde. Die Meinungsbildung dürfte also schon relativ weit fortgeschritten sein.»
Dennoch dürfte der weitere Verlauf des Abstimmungskampfs laut Milic entscheidend sein. «Zentral wird etwa sein, ob die Gegner glaubhaft darlegen können, dass die SRG bei einem Ja zur No-Billag-Initiative komplett abgeschafft wird.»