Der Moment war derart heikel, dass man ihn schon fast historisch nennen muss. Da fragt Sven Epiney den bärtigen Andy McSean aus St. Gallen, wie es ihm denn so gehe, als einzige männliche «Frontpersönlichkeit» unter lauter Sängerinnen. «Ich bin froh, haben alle anderen heute keine Bärte, da wäre sonst was komisch.»
Hallo Gender-Awareness! Hinter der Bühne steht Conchita Wurst!! Epiney schnappte kurz nach Luft. Und da hatte sich der Mann, dessen Song ich zum Aufsetzen von Nudelwasser benutzte, für mich dann endgültig disqualifiziert.
Conchita durfte erst um 21.58 Uhr die Bodenseearena in Kreuzlingen betreten, und ach, was soll ich sagen, «d' Nachbarin us Öschtriich» (Epiney) gab wie immer die Göttin und war eine Erholung. Auch wenn «Rise a Phoenix» schon fast so müde in den Ohren liegt, wie die gefühlten 12'000 Schnelldurchläufe jener sechs Menschen, von denen jetzt einer die Schweiz im Mai am zweiten Eurovision-Song-Contest-Halbfinale in Wien vertreten darf. Aber nur fast. Kreuzlingen sprang von den Sitzen. Es war schön.
A photo from rehearsals... see you soon live on @srfesc! ❤️ Who's watching? 😊 #srfesc #theunstoppables pic.twitter.com/U3dgMvROPR
— Conchita Wurst (@ConchitaWurst) 31. Januar 2015
Es ist ja so: In den letzten zehn Jahren war die Schweiz am ESC unschlagbare vier Mal im Finale, und dort wurde sie dann Achte (2005), Siebzehnte (2006), Letzte (2011) und Dreizehnte (2014). Logisch, dass man da alles dransetzen muss, endlich mal wieder weiter zu kommen. Man könnte aber auch einfach aufhören damit. Liechtenstein macht da schliesslich auch nicht mit. Aber Vernunftgründe haben mit dem ESC ja so wenig zu tun wie guter Geschmack.
Und jetzt soll es also die 24-jährige Genferin Mélanie René (klang die nur aus meinem TV so falsch?) mit «Time to Shine» richten. Und da muss man nun sagen, dieses darke Melodram ist dermassen ESC-Mainstream, dass es eventuell keine so schlechten Chancen haben könnte. Theoretisch.
Und sonst? Miruna Manescu von der Berner Band Timebelle (das heisst «Zytglogge», wie der Turm), hatte sich vor der Show das Kleid mit Lippenstift bekleckert. Aber dann sagten ihre Supporter frei nach Christina Aguleira «You're beautiful, no matter what you wear!», und für diesen Support ist sie jetzt total dankbar und feelt sich amazing.
Licia Chery aus Genf, das fröhlichste Wesen, das in der Schweiz je zur Welt gekommen sein dürfte, liebt Bahnhöfe, denn «bide Bahnhöf, da gaht es Türli uf» (Epiney), es Türli zur Wält, natürli. Aber wenn sie mit ihrem heiteren Song «Fly» nach Wien dürfte, sagte sie, dann wär sie so selig, dass sie sogar nach Wien schwimmen würde.
Und da ist da noch unsere Tiziana, die letztes Jahr Voice of Switzerland wurde, aber trotzdem mit ihrem ersten Album nicht in die Top 20 kam. Da kann man halt nichts machen. Nach dem Event ist vor dem Nichts. Und auch Samstagnacht konnte Tiziana ihren einstigen Erfolg nicht wieder einholen. Vielleicht auch, weil bei ihrem Auftritt die Sehnsüchte einer Provinz-Floristin mit allen Jeans-Sünden der 80er-Jahre kollidierten. Aber daran war Tiziana unschuldig.