Es war der Sommer ohne Sonne. Mary (18), ihre Stiefschwester Claire (17) und Percy (23) reisen nach Genf. Sie wollen ihren reichen Freund George besuchen, der ein Lord ist und mit 28 Jahren uralt. Es heisst, George habe eine Affäre mit seiner Halbschwester. Er gilt in England als «mad, bad and dangerous to know».
George lebt mit seinem Arzt John (20) in einer Villa am See, und John ist in George verliebt. Claire ist schon länger Georges Geliebte und schwanger. Mary und Percy sind seit zwei Jahren ein Liebespaar, Percy hat für Mary seine schwangere Frau und sein Kind verlassen.
Mary, Claire und Percy trampten schon zwei Jahre vor der Reise nach Genf mit Esel und Maultier durch Frankreich, Deutschland und die Schweiz und kamen dabei an der deutschen Burg Frankenstein vorbei, die einem Alchemisten gehört hatte. In Luzern ging ihnen das Geld aus und sie mussten nach London zurück.
Marys Vater ist der anarchistische Philosoph William Godwin, ihre Mutter die Feministin Mary Wollstonecraft. Mary hat jedes Buch gelesen, das damals in England gab, und spricht mehrere Sprachen. Zusammen mit ihrem Lover Percy Shelley lebt und propagiert sie die freie Liebe. 1815 ist sie zum ersten Mal schwanger, Baby Clara wird nur 13 Tage alt.
Doch jetzt ist es 1816, das berühmte «Jahr ohne Sommer» mit seinem Sommer ohne Sonne, und die fünf exaltierten Freunde sitzen in der feuchten Villa Dioadati von George, besser bekannt als Lord Byron. Nach kurzer Zeit ist Mary erneut schwanger. Und aus den dunklen Winkeln der Villa kriechen die Monster. Denn die fünf britischen Bohemiens schreiben alle Gedichte oder Geschichten und leiden unter einer dunkelromantischen Fantasie.
In der bildenden Kunst ist das nichts Neues, da haben Monster schon länger Konjunktur. Der Schweizer Johann Heinrich Füssli (1741-1825), der in London Malerei lehrt, boomt mit seinen unheimlich verzerrten Fabelwesen. In Spanien zeichnet der schwermütige Hofmaler Goya (1746-1828) seit Jahren nichts Anderes als Alpträume und verstümmelte Kriegsopfer. Doch die alles definierenden Monster, die den kulturellen Monster-Mainstream bis heute bestimmen, die schlüpfen genau jetzt, in Genf, aus den schwarzen Seelen ihrer Erzeuger.
Es regnet über Genf. Und regnet. Die fünf sitzen am Kaminfeuer und lesen deutsche Gruselgeschichten und beschliessen, selbst Horrostorys zu erfinden. Mary tut sich schwer, doch plötzlich, am 16. Juni 1816, «zwischen zwei und drei Uhr nachts» überkommt sie: Frankenstein. Und sein Monster. Sie sagt darüber, es sei der Moment gewesen: «Als ich zum erstenmal die Kindheit ins Leben hinaus verliess». Sie findet ihre Idee selbst «abscheulich», es ist ihr rätselhaft, wie sie, das «junge Mädchen» überhaupt auf die Idee gekommen ist.
Vor sich sieht sie den bleichen Studenten Viktor Frankenstein, der sich über ein «Ding» beugt, dass er aus Leichenteilen zusammengesetzt hat und jetzt mit Hilfe einer Maschine zum Leben erwecken wird. Doch das Ding will eine Gefährtin und tötet schliesslich – in Genf – Viktors Verlobte. Dann flieht es zum Nordpol. Eine grauenhafte, grossartige Geschichte über Grössenwahn im Zeitalter des Fortschritts und die mechanische Machbarkeit des Menschen. Science Fiction. Mary Shelley kann damals nicht ahnen, dass ihr Roman über hundert Mal verfilmt werden wird und dass alle Welt seinen Namen kennt.
Das andere Wesen, dass aus den verregneten Tagen am Kaminfeuer hervorgeht, ist vergleichsweise zahm und sehr, sehr gediegen: John Polidori, der Arzt, dessen Namen schon nach einem Fürsten der Finsternis klingt, lauscht seinem Lord, der gern Geschichten von ungeschlachten, tierähnlichen Vampiren aus den Volkssagen des Balkans erzählt. Und beschliesst, seinen Vampir lieber Lord Byron nachzubilden.
Denn «The Vampyre», die Erählung, die Polidori schliesslich schreibt, ist die Erfindung des aristokratischen, über Jahrhunderte gebildeten Vampirs, der seither restlos alle beeinflusst hat: Von Bram Stoker bis zur «Twilight»-Saga. Fälschlicherweise erscheint «The Vampyre» schliesslich zuerst unter dem Namen Lord Byron – und wird ein Riesenerfolg.
Am 9. Oktober nimmt Mary Shelleys andere Stiefschwester Fanny (22) ein Zimmer in einem Gasthaus in Wales. Sie bittet, nicht gestört zu werden, und schluckt eine Überdosis Laudanum. Das Gerücht geht um, sie sei in Percy verliebt gewesen und hätte sich deshalb das Leben genommen.
Am 10. Dezember ertränkt sich Percy Shelleys Gattin Harriet (21) im Weiher mit dem Namen «The Serpentine» mitten im Londoner Hyde Park.
Am 30. Dezember heiraten Mary und Percy.
In London hat unterdessen der depressive, opiumsüchtige Apotheker John Keats seinen ersten Gedichtband veröffentlicht. Er ist 20 Jahre alt, der Gedichtband kein Erfolg. Im Februar 1821 wird er an Tuberkulose sterben, in Rom, in einem Haus am Fuss der Spanischen Treppe. Er schafft es nicht mehr bis nach Pisa, zu seinem Freund Percy Shelley, der jetzt in Italien lebt.
Im Sommer nach Keats nimmt auch der ebenfalls depressive und schwer verschuldete John Polidori Gift. Percy Shelley ertrinkt 1822 mit knapp 30 in einem schweren Sturm vor La Spezia. Lord Byron erliegt 1824 im griechisch-türkischen Krieg dem Wundfieber. Er hinterlässt der Welt die geniale Tochter Ada Lovelace, die Erfinderin der ersten Computer-Programmiersprache der Welt.
Mary und Claire werden alt. Mary stirbt mit 54, Claire mit 81. Mary ist eine angesehene Schriftstellerin, Claire arbeitet in ganz Europa als Erzieherin. Mary lebte weiterhin die freie Liebe.