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Schikaniert die Aargauer Polizei Muslime? Der Nachrichtendienst verneint

Naim Cherni, Autor des Films und im Vorstand des islamischen Zentralrats, im Gespräch mit einem Muslim aus Aarburg.
Naim Cherni, Autor des Films und im Vorstand des islamischen Zentralrats, im Gespräch mit einem Muslim aus Aarburg.Screenshot: Youtube
«Rechtsstaatlich zweifelhaft»

Schikaniert die Aargauer Polizei Muslime? Der Nachrichtendienst verneint

Die Aargauer Kantonspolizei bietet Muslime zu «Präventionsgesprächen» auf. Dies bezeichnet der Islamische Zentralrat in einem YouTube-Video als Amtsmissbrauch.
23.12.2014, 07:5423.12.2014, 09:59
Fabian hägler / Aargauer Zeitung
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Aargauer Zeitung

Mitte November drehte der islamische Zentralrat der Schweiz (IZRS) in Kriens ein umstrittenes Propaganda-Video. Vor allem das Ende des Films hat einen drohenden Unterton: «Wisset, dass wir hier sind. (...) Wir werden nicht mehr gehen. (...) Rechnet mit uns. Jederzeit. Überall.» 

Während der Dreharbeiten alarmierten Spaziergänger die Polizei. Die schwarz vermummten Gestalten, die Fahnen mit dem islamischen Glaubensbekenntnis schwenkten, lösten bei ihnen Irritationen und ein mulmiges Gefühl aus. Auch im Aargau wurde die Polizei aktiv: Sie befragte einen Muslim aus Aarburg, der beim Videodreh in Kriens dabei war. Dies hält der islamische Zentralrat in einem YouTube- Video fest. Darin erheben mehrere Muslime Vorwürfe gegen die Aargauer Kantonspolizei. Der Mann aus Aarburg, der aus dem Kosovo stammt, beklagt sich über die Befragung. 

«Als Extremist dargestellt»

Ein Polizist habe ihn gefragt, ob beim Filmdreh eine Person geköpft worden sei, ob er gewaltbereit sei und sich vorstellen könne, als Dschihadist für den Islamischen Staat zu kämpfen. Seine Antwort: «Wir leben in der friedlichen Schweiz, so etwas passiert hier nicht, wie kann man eine solche Frage stellen?» 

In der IZRS-Reportage sagt der Aarburger, er finde es nicht normal, dass ihm Behörden solche Fragen stellten. «Wer das tut, stellt mich als Extremist dar», kritisiert er. Naim Cherni, Autor des Films und im Vorstand des islamischen Zentralrats aktiv, bezeichnet den Aarburger Muslim als friedlich und gut integriert. «Er betet regelmässig in der Moschee und engagiert sich als aktiver Muslim bei zahlreichen Vereinen.» 

«Irre, verdunkelte Knallköpfe»

Auch eine junge Frau, die im Freiamt wohnt, wurde laut dem YouTube-Beitrag des islamischen Zentralrats von der Polizei zu einem sogenannten «Präventionsgespräch» eingeladen. Die 19-jährige Schweizerin, die im April zum Islam konvertierte, erlebte laut Cherni «eine noch fragwürdigere Begegnung» als der Muslim aus Aarburg. Sie sagt, die Polizei habe ihr ungefragt Hilfe angeboten und sie dann Sheik Hassan vorgestellt, einem Lehrer der islamischen Glaubensrichtung der Sufis. Gemäss dem Video brachte die Kantonspolizei die junge Konvertitin zum Sufi-Treffen auf der Beguttenalp oberhalb von Erlinsbach, das Mitte Oktober stattfand. «Die Polizei hat mir gesagt, die Sufis verfolgten einen guten, friedlichen Weg, nicht wie die anderen», sagt die Frau in der Video-Reportage. 

Auf den islamischen Zentralrat sind die Sufis schlecht zu sprechen: IZRS-Vertreter seien «irre, verdunkelte Knallköpfe», hiess es am Sufi-Treffen in Erlinsbach. Nicolas Blancho, der Präsident des islamischen Zentralrats, bezeichnet die Sufis seinerseits als «haram», also als unrein. 

So wurde eine junge Muslimin zum Präventionsgespräch aufgeboten.
So wurde eine junge Muslimin zum Präventionsgespräch aufgeboten.

Konvertitin fühlt sich bedrängt

Die junge Muslimin fühlte sich vom Treffen der Sufis nicht angesprochen, sie beschloss, sich nicht dieser Glaubensrichtung anzuschliessen. Rund eine Woche später habe sich die Aargauer Polizei wieder bei ihr gemeldet und gefragt, wie sie sich nun entschieden habe. Die Polizei habe sie richtig gedrängt, sich den Sufis anzuschliessen, «damit ich nicht radikal werde», wie die Frau sagt. Laut ihren Aussagen wollten die Polizisten auch wissen, welche Moschee sie besuche.  

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Zudem habe die Polizei ihr von Kontakten mit dem islamischen Zentralrat abgeraten. Immer wieder hätten die Polizisten sie angerufen und Mails geschrieben. «Ich sagte ihnen, dass ich meine Ruhe haben wolle, meinen Weg schon finde und dass sie sich keine Sorgen machen müssten», sagt die Frau im Video. Sie könne garantieren, dass sie nie etwas Schlimmes tun würde, das nicht mit dem Islam vereinbar sei. 

Sie kritisiert, die Kantonspolizei habe Druck auf sie ausgeübt und sie praktisch gezwungen, «zu den Sufis zu gehen». 

Vorwurf des Amtsmissbrauchs

«Wir waren schockiert von dieser Anmassung der Beamten», sagt Naim Cherni. Nach einem Aufruf bei Facebook hätten sich weitere Muslime beim IZRS gemeldet – ein Beispiel stellt er im Video dar: Ein junger Albaner, der zu einem Gespräch bei der Polizei aufgeboten wurde, weil er sich entschieden habe, «öfter die Moschee zu besuchen». Offenbar hatte eine Person aus seinem Umfeld den Verdacht, der Mann könnte sich der Terrorgruppe IS anschliessen. «Ich sagte der Polizei, dass ich so was nie tun würde und die Taten des IS verabscheue», sagt der Mann im Video. Vielmehr wolle er sich in der Schweiz weiterbilden und eine Familie gründen. 

Er glaubt, die Polizei habe ihn als IS-Sympathisanten eingestuft, weil er einen längeren Bart trage. «Im Kanton Aargau scheint die Polizei junge Muslime mehr oder weniger systematisch zu beobachten und sie mit rechtsstaatlich zweifelhaften Methoden an ihrer Entfaltung hindern zu wollen», sagt Naim Cherni. Wenn die Polizei beginne, sich ins Privatleben von Bürgern einzumischen und Druck auf junge Muslime ausübe, sollte dies für eine freie Gesellschaft alarmierend sein, findet der islamische Zentralrat. 

Zentralsekretärin Ferah Ulucay kündigt an, die Rechtsabteilung des Zentralrats werde abklären, «ob hier schwerer Amtsmissbrauch vorliegt». Ulucay, die 2009 im Alter von 17 Jahren laut einem Artikel der «Weltwoche» ihre Familie verliess und Cherni heiratete, rät Betroffenen, sie sollten sich von der Polizei nicht einschüchtern lassen und sich beim Zentralsekretariat des IZRS melden. 

Nachrichtendienst widerspricht

Was sagt die Kantonspolizei Aargau zu den Beschuldigungen? Konfrontiert mit dem Video des IZRS, sagt Sprecher Roland Pfister: «Wir nehmen dazu keine Stellung, die Informationshoheit liegt beim NDB, dem Nachrichtendienst des Bundes.» Auf Anfrage bestätigt NDB-Kommunikationschefin Isabelle Graber: «Der Nachrichtendienst des Bundes und die kantonalen Nachrichtendienste können solche Gespräche zu präventiven Zwecken und zur Informationsbeschaffung durchführen.» Graber widerspricht den Vorwürfen, die Gespräche seien rechtlich fragwürdig. 

Sie erklärt, Präventionsgespräche würden im Rahmen des Vollzugs des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWI) geführt. Dabei gehe es um die Früherkennung und Bekämpfung von Terrorismus und gewalttätigem Extremismus. Die Gespräche hätten – entgegen den Vorwürfen des IZRS – nicht den Zweck, Personen zu bestimmten religiösen Richtungen zu «bekehren». 

Sie können und sollen laut der NDB-Sprecherin aber «fallweise darauf aufmerksam machen, dass Rekrutierungen für gewaltextremistische oder terroristische Gruppierungen gezielt in bestimmten, auch religiösen Umfeldern vorgenommen werden». Isabelle Graber betont zudem: «Die Teilnahme an einem solchen Gespräch ist freiwillig. Niemand kann gezwungen werden, der Einladung Folge zu leisten.» 

Kein Gespräch mit Çendrim R.

Çendrim R. war im März laut Medienberichten an einem Attentat auf einen Kontrollpunkt in der Türkei beteiligt
Çendrim R. war im März laut Medienberichten an einem Attentat auf einen Kontrollpunkt in der Türkei beteiligt

Nie im Fokus der Nachrichtendienste stand offenbar Çendrim R., der Dschihadist aus Brugg, der sich der IS-Terrormiliz in Syrien angeschlossen haben soll. Mit dem gebürtigen Albaner, der über 15 Jahre in der Schweiz lebte, wurde laut Graber kein Präventionsgespräch geführt. «Çendrim R. war in der Schweiz nur als gemeinrechtlicher Straftäter bekannt, nicht als gewaltextremistischer oder terroristischer Aktivist», sagt sie. 

Laut Medienberichten war Çendrim R. im März an einem Attentat auf einen Kontrollpunkt in der Türkei beteiligt, bei dem drei Menschen starben – darunter ein Polizist und ein Soldat. Zu den drei Fällen im Video des Zentralrats nimmt die NDB-Sprecherin nicht konkret Stellung. Auf die Frage, wie die Auswahl der Personen erfolgt, die für solche Präventionsgespräche aufgeboten werden, sagt Graber: «Die kantonalen Stellen werden entweder aufgrund aktueller Informationen vom NDB beauftragt oder führen diese Gespräche in direkter Anwendung des Bundesgesetzes zur Wahrung der inneren Sicherheit.»  

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Polizei betreibt Staatsschutz

Im Aargau ist dafür der «Dienst Staatsschutz» der Kantonspolizei verantwortlich. Dieser ist fachlich direkt dem Polizeikommandanten, administrativ dem Abteilungschef Kriminalpolizei unterstellt, wie es in der Antwort des Regierungsrats auf einen SP-Vorstoss von 2008 heisst. Der Dienst ist damit formell in die Kantonspolizei eingegliedert, «erfüllt aber eine Bundesaufgabe und ist daher auch gegenüber dem Bund rechenschaftspflichtig», schreibt der Regierungsrat. 

Laut Samuel Helbling, Sprecher des zuständigen Departements Volkswirtschaft und Inneres, werden bei der Kantonspolizei «zwei Stellen schwerpunktmässig für den Staatsschutz eingesetzt». Über die Zahl der Präventionsgespräche mit Muslimen macht Helbling keine Angaben, der NDB führt dazu keine Statistik. 

Allerdings stehen gemäss Informationen der «Aargauer Zeitung» nicht nur radikale Muslime oder mögliche Dschihadisten im Fokus der Polizei. Die kantonalen Staatsschützer beschäftigen sich auch mit links- und rechtsextremen Kreisen. Auch im Jahresbericht der Kantonspolizei taucht der Dienst Staatsschutz nicht auf. Überprüft wird dessen Tätigkeit einmal pro Jahr durch den Generalsekretär des Departements Volkswirtschaft und Inneres. Dieser informiert den zuständigen Regierungsrat Urs Hofmann. 

Der Regierungsrat wird zudem mit einem Jahresbericht über die Aktivitäten des Staatsschutzes informiert. «Dieser ist vertraulich, zum Inhalt können keine weiteren Angaben gemacht werden», sagt Samuel Helbling. 

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