Die Bibel wird alle vier Jahre neu geschrieben. Zumindest wenn es sich um die Bibel der Schweizer Bildungspolitik handelt. Gestern veröffentlichte der Bund nach 2010 und 2014 die dritte grosse Lagebeurteilung. Auf 330 Seiten werden mehr als 500 Themen bearbeitet. Hunderte Statistiken und Studien wurden von Bildungsökonom Stefan Wolter und seinem Team ausgewertet und liefern Antworten auf die Frage, wie es um die Bildung der Schweizer steht.
An der gestrigen Medienkonferenz in Bern hob Bundesrat Johann Schneider-Ammann hervor, dass die Schweizer Bildung zu den besten der Welt gehöre. Doch die Bildung ist im Wandel. Auf die Schulen warten grosse Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen – vom Kindergarteneintritt bis zum Universitätsabschluss. Fünf der grössten Bildungs-Baustellen im Überblick:
Wie sämtliche Gesellschaftsbereiche werden technische Neuerungen die Schulen über Jahre prägen. Ganze Berufsbildungen wie das KV werden sich komplett ändern, heisst es im aktuellen Bildungsbericht. Bundesrat Scheider-Ammann betont deshalb: «Die Digitalisierung hat für mich höchste Priorität.» Dabei gehe es nicht nur um digitale Fähigkeiten. In einer Zeit, in der Computer und Maschinen viele Aufgaben übernehmen können, komme es stark auf die soziale Kompetenz an.
Der Autor des Berichts, Stefan Wolter, zieht einen Vergleich: Nur der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung würde es gelingen, einfachere kognitive Aufgaben zu lösen. Auf einem ähnlichen Niveau seien die heutigen Computer. In weniger als zehn Jahren seien sie allerdings fähig, fast 100 Prozent dieser Aufgaben zu lösen, während die Menschen stagnieren. Das Bildungswesen müsse sich deshalb überlegen, welche Fähigkeiten in Zukunft gefragt sein werden, sagt Wolter. «Damit der Computer dem Menschen hilft und nicht der Mensch dem Computer.»
Gemäss Bericht hat heute ein Drittel der 15- bis 17-Jährigen einen Migrationshintergrund. Obwohl es noch weitere Daten zu ihren Leistungen brauche, zeigen sich bereits grosse Unterschiede zu ihren Schweizer Altersgenossen. Noch immer ist das Ziel, dass 95 Prozent aller Jugendlichen einen Abschluss der Sekundarstufe II erreichen. Sie sollen nach der obligatorischen Schulzeit eine weitere Ausbildung (Lehre, Matura, Fachmittelschule) abschliessen.
Während 94 Prozent der Schweizer dieses Ziel erreichen, sind es bei im Ausland geborenen Jugendlichen lediglich 73 Prozent. Sie schaffen es in der Regel nicht, die Defizite aufzuholen. Selbst im Kindergarten zeigen sich bereits Unterschiede. Die Präsidentin der Erziehungsdirektorenkonferenz, Silvia Steiner, spricht von einem besorgniserregenden Problem, das es nun anzupacken gelte, um Chancengleichheit zu schaffen (siehe Interview rechts).
Nachdem die Schülerzahlen über 15 Jahre gesunken sind, steigen sie seit 2017 wieder an. Der Bericht prognostiziert bis 2025 schweizweit eine Zunahme von 13 Prozent, in einigen Kantonen wie Basel-Stadt, Zürich oder Thurgau gar um fast 20 Prozent. Alleine auf der Primarstufe werden es künftig 87'000 Kinder mehr sein als heute.
«Bis ins Jahr 2025 werden die Schülerzahlen in einigen Kantonen historische Höchststände erreichen», sagt Wolter. Die Trendwende kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt, da viele Kantone Sparmassnahmen umsetzten und zugleich viele Lehrer in Rente gehen werden. Der Lehrermangel sei ein ständiger Kampf, sagt Silvia Steiner. Es ginge jetzt darum die Ausbildung und den Beruf des Lehrers noch attraktiver zu machen.
Umstritten bleiben die Sparmassnahmen in der Bildung, die verschiedene Kantone angekündigt und umgesetzt haben. 2016 schickte der Kanton Luzern gar 20 000 Gymnasiasten und Lehrlinge eine Woche in die Zwangsferien. Mit den steigenden Schülerzahlen wird sich das Problem weiter verschärfen. Selbst der Erfinder der Pisa-Studie, der Deutsche Andreas Schleicher, mischte sich in die Debatte ein und empfahl der Schweiz grössere Klassen, was bei den Lehrern nicht gut ankam.
Welcher Einfluss Klassengrössen und Ausgaben auf den schulischen Erfolg haben, bleibt allerdings umstritten. Der Bildungsbericht zeigt deutliche Unterschiede in den Ausgaben. So steckt der Kanton Graubünden 16.2 Prozent der kantonalen Ausgaben in die Bildung, während es in Freiburg 31.7 Prozent sind. In absoluten Zahlen gibt Basel-Stadt mit jährlich 7330 Franken pro Kopf am meisten aus. Nidwalden mit 2500 Franken am wenigsten.
Gemäss Prognosen des Bundes wird die Schweiz ein Volk von Akademikern. Bis 2045 werden 60 Prozent der Bevölkerung einen tertiären Bildungsabschluss haben. Das bedeutet, sie haben einen Hochschulabschluss oder eine höhere Berufsbildung. 2015 waren es noch 40 Prozent. Wie sich die Entwicklung auf das duale Schweizer Bildungssystem auswirkt, ist unklar: Es sei richtig, dass sich heute zwei von drei Jugendlichen nach Abschluss der obligatorischen Schule für die Berufsbildung entscheiden, sagt Bundesrat Schneider-Ammann. «Ob das auch in 20 Jahren noch gilt, lasse ich offen.»