Herr Wolter, Bundesrat Johann Schneider-Ammann hat diese Woche ein Foto von sich mit Ivanka Trump gepostet. Beide sprachen über die Schweizer Berufsbildung. Mit wem haben Sie schon Fotos geschossen?
Stefan Wolter: Auf diese Idee bin ich noch nie gekommen. Bei den Treffen geht es ja nicht um mich, sondern um das Schweizer Bildungssystem. Ausserdem heisst es vor den Meetings oft: «No selfies, please.» So war es zum Beispiel kürzlich mit dem belgischen König.
Was begeistert Könige und Staatschefs an der Schweizer Bildung?
Die Fragen sind fast immer die gleichen: «Ist die Jugendarbeitslosigkeit bei euch wirklich so tief?» «Wie funktioniert das genau mit der Lehre», und: «Wie kann ein 15-Jähriger schon wissen, was er ein Leben lang machen will?» Das können sich die ausländischen Gäste gar nicht vorstellen. Gerade in Ländern, in denen viele eine berufliche Entscheidung erst im Alter von 25 Jahren treffen müssen. Sie sind positiv geschockt, wenn sie unsere Lehrlinge treffen. Ein Australier sagte einmal, nachdem er eine 17-jährige Lehrtochter gesehen hatte, die gerade einen Millionenkredit bearbeitete: «Mein Sohn ist Mitte 20. Ich wünschte mir, er wäre so reif wie sie.»
Warum fällt jungen Schweizern die frühe Entscheidung leichter?
Weil sie wissen, was auf Sie zukommt. Bei uns machen sich Schüler, Eltern und Lehrer früh Gedanken über die Zukunft. Dann klappt es auch meistens.
Tatsächlich? Viele Schüler gehen ans Gymnasium, um die Entscheidung hinauszuzögern.
Stimmt, aber das ist der falsche Ansporn. Kinder sollten ans Gymnasium, weil sie einen Beruf ausüben wollen, der ein Studium erfordert. Anwalt oder Arzt zum Beispiel. Ansonsten sollte man die Berufsbildung nicht unterschätzen. Wer eine Lehre macht, kann später ohne Probleme einen höheren Abschluss nachholen. Durch die Verbindung von akademischer mit praktischer Kompetenz sind sie später auf dem Arbeitsmarkt viel gefragter.
Wo liegen die grössten Probleme bei der Implementierung des Schweizer Systems im Ausland?
Firmen müssen die treibende Kraft sein, nicht die Regierung oder Schulen. Schon vor dem Besuch des Königs war ich in Belgien und habe mir die Schulen angesehen. Am Abend wurde uns beim Dinner dann ganz stolz gesagt: «Übrigens haben Lehrlinge das Essen zubereitet.» Wie bei uns also. Das Problem ist nur, dass es Lehrlinge waren, die ein-, zweimal im Jahr für Gäste kochen. Ansonsten werden sie an einer Berufsfachschule zu Köchen ausgebildet, ohne je einen Kunden zu treffen. Sie arbeiten in einer Übungsküche.
Und das Essen, das sie jeden Tag kochen?
Das essen sie selber. Das ist mit einem Schweizer Kochlehrling überhaupt nicht zu vergleichen. Der hat immer echte Kunden, da kann er kein schlechtes Menü servieren, ansonsten bekommt er Probleme. In vielen Ländern arbeiten die Lehrlinge in künstlichen Umgebungen, weil die Regierung keine Firmen findet, die mitmachen wollen. Es gibt Ausnahmen wie Spanien, dort sitzen aber Unternehmer im Fahrersitz der Reform.
Warum wird gerade jetzt die Schweizer Berufsbildung zum Exportschlager?
Der Wendepunkt kam 2010, als die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; Anm. d. Red.) die Schweiz erstmals als eigenständiges Modell hervorhob und uns nicht als eine Kopie Deutschlands abtat. Es hiess immer, der Preis für die Berufsbildung sei ein regulierter Arbeitsmarkt wie in Deutschland, in dem eine Firma keine Leute entlassen dürfe. Das hat natürlich Länder wie die USA nicht interessiert. Als es aber hiess, in der Schweiz sei der Arbeitsmarkt fast so wenig reguliert wie in den USA, hat das eingeschlagen wie eine Bombe.
Die Welt scheint begeistert zu sein, trotzdem fürchten hiesige Lehrer, Eltern und Universitätsrektoren wegen des Spardrucks um die Qualität des Bildungssystems.
Die Welt ist auch deshalb begeistert, weil die duale Berufsbildung hilft, die Bildungsausgaben tiefer zu halten, da Firmen ihren Beitrag leisten. Was die Sparmassnahmen betrifft: Bund und Kantone wollen nicht spezifisch in der Bildung sparen. Es ist nur schwierig, Staatsausgaben zu senken, ohne die Bildung anzutasten.
Die Ausgaben für Fachhochschulen sind stärker gestiegen als für die obligatorische Schule. Sparen wir am falschen Ort?
Man muss die Zahlen differenziert betrachten. Wenn man die Ausgaben für Schüler und Studenten aufschlüsselt, gibt man heute für einen Schüler deutlich mehr aus als vor 10 Jahren. Das liegt an den über Jahre gesunkenen Schülerzahlen. Dagegen gibt es heute mehr Studenten, aber nicht sehr viel mehr Geld. Die Ausgaben pro Schüler an der obligatorischen Schule sind deutlich gestiegen, auf der Tertiärstufe allerdings nicht.
Warum dann die Kritik von allen Seiten?
Man will keine Abstriche akzeptieren. Lehrer weisen auf veränderte Bedingungen hin. Sie betreuen die Kinder heute individueller, die Eltern sind schwieriger geworden und die Erwartungshaltung an die Schule gestiegen. Zumindest sind das die Rückmeldungen, die wir erhalten.
Wenn viele Lehrer am Anschlag sind, läuft etwas schief.
Das liegt nicht zuletzt an den extrem unterschiedlichen Arbeitsbedingungen. Im selben Kanton kann ein Lehrer nur 12 Schüler in einer Klasse haben. Zehn Kilometer entfernt in der Nachbargemeinde muss ein anderer 25 unterrichten. Sinnvoll wäre es, die Kinder besser zu verteilen, sodass es nicht mehr 12 sondern 18 Schüler sind. Das Ungleichgewicht kommt auch durch den Zwang, möglichst alle Schulen offenzuhalten.
Sie würden also einige Schulen schliessen und die Kinder mit Bussen in andere Klassen fahren?
Im Mittelland ist die Besiedlungsdichte so gross, dass die Wege für die Schüler klein bleiben würden. Man könnte einige Schulhäuser schliessen, zumindest sollte man für solche Massnahmen offenbleiben. Es können auch zwei Gemeinden zusammen eine Schule führen. Das wird heute teilweise gemacht.
Die Landflucht verschärft das Problem in den Städten. Zudem steigen die Schülerzahlen erstmals seit Jahren wieder an. Wo führt das hin?
In den vergangenen 10 bis 15 Jahren blieben die Ausgaben wie gesagt gleich, während die Schülerzahlen stark zurückgingen. Das waren geradezu himmlische Verhältnisse, die nun zu Ende gehen. Die Situation wird sich komplett drehen. Bis ins Jahr 2025 werden die Schülerzahlen in einigen Kantonen historische Höchststände erreichen, ohne dass die Politik mehr Mittel zur Verfügung stellt. Die Klagen der Lehrer sind eher als Vorwarnung gedacht.
Einige beklagen durchaus die aktuelle Situation.
Wenn das der Fall ist, frage ich mich, was in fünf Jahren sein wird. Dann werden sie sich mit Freude an 2017 erinnern, als die Verhältnisse im Vergleich noch himmlisch waren.
Steuert die Schweiz bei deutlich mehr Schülern auf einen eklatanten Lehrermangel zu?
Das ist nicht umsonst ein Dauerthema. Die Absolventen der Pädagogischen Hochschulen reichen nicht aus, um die Lehrer zu ersetzen, die das Pensionsalter erreichen. Wir können es aber auffangen, wenn man den Beruf attraktiv hält. Das ist momentan der Fall: Quereinsteiger und viele Jugendliche interessieren sich für den Lehrerberuf. Das grössere Problem ist die wachsende Teilzeitbeschäftigung. Wenn ein Lehrer nur 40 Prozent arbeiten möchte, braucht man 2.5 Personen um eine 100-Prozent-Stelle zu besetzen. Das verschärft den Mangel.
Was könnte den Lehrern helfen?
Die grosse Hoffnung der Schulen ist die Digitalisierung. Neue technische Hilfsmittel erlauben Lehrern, grössere Klassen individuell und effizient zu unterrichten. Programme, die den Lernfortschritt jedes einzelnen Kindes festhalten und die idealen Übungen auswählen, entlasten die Lehrpersonen ungemein.
Die Digitalisierung sorgt aber auch für Unsicherheiten. Viele Jobs sind in Gefahr. Was muss ein Kind heute lernen, um für die Zukunft gerüstet zu sein?
Wenn ein Kind neu eingeschult wird, reden wir über den Arbeitsmarkt in 10 bis 20 Jahren. Es ist also schwierig, eine Prognose abzugeben. Wichtig ist, dass die Schüler in Kontakt mit den neuen Technologien kommen und sie sogenannte Digital Natives werden. Wer allerdings jetzt eine Lehrstelle sucht, muss sich eher die Frage stellen, ob der Beruf in zehn Jahren noch da ist.
Zuletzt hiess es, die Digitalisierung bedrohe 200'000 KV-Stellen. Also bloss keine KV-Lehre beginnen?
Die Sorge um die KV-Stellen ist aus meiner Sicht reine Hysterie. Mitte der 90er-Jahre hatten wir eine ähnliche Situation beim Sekretariatsberuf. Es kamen die ersten Textverarbeitungssysteme und der Computer samt «Word». Damals hiess es, dass alle Sekretariatsstellen verschwinden würden und man deshalb das KV nicht mehr machen solle. Die Studie hatte zwar in einem recht: Die klassischen Sekretariatsaufgaben gibt es tatsächlich nicht mehr. Aber die Vorhersage war falsch, das KV floriert immer noch, ist sogar gewachsen, weil man es den veränderten Berufsbildern angepasst hat.
Trotzdem lösen solche Prognosen Unsicherheiten aus. Das könnte mehr Jugendliche ans Gymnasium treiben, weil sie denken, danach bessere Job-Aussichten zu haben.
Hysterie-Meldungen wie beim KV haben tatsächlich einen Einfluss auf Eltern und Jugendliche. Allerdings garantiert das Gymnasium keine besseren Berufschancen. Die Berufsbildung ist auf die technologische Entwicklung viel besser vorbereitet, weil sie immer erst in den Unternehmen beginnt und erst ein Jahrzehnt später in den Schulen ankommt. Ein Lehrling hat nach einer technischen Ausbildung einen Vorsprung von mehreren Jahren auf den Gymnasiasten.
Dennoch versuchen viele Eltern, ihren Nachwuchs ans Gymnasium zu hieven, und bezahlen ihnen in den Sommerferien Nachhilfelehrer. Ist Bildung käuflich?
Bildung lässt sich in einem bestimmten Mass immer kaufen, ob sich auch der Erfolg kaufen lässt, ist eine andere Frage. Wenn beispielsweise Maturanden nur dank massivem Bildungsdoping den Abschluss schaffen, ist es fraglich, ob damit auch der Studienerfolg an der Universität gesichert ist. Lerndoping hilft nur kurzfristig. Es wäre sinnvoller, eine passende Lehre zu suchen. In den anspruchsvollsten Lehrberufen sind die intellektuellen Herausforderungen die gleichen wie im Gymnasium.
Sie singen ein Loblied auf die Berufsbildung, Sie selber haben aber studiert.
(Lacht.) Wissen Sie, ich habe eine Lehrstelle gesucht – und auch gefunden. Ich hätte bei einer Bank anfangen können, allerdings sagte meine Lehrerin am Tag, als ich unterschreiben wollte: «Das geht doch nicht, du musst ans Gymnasium.» Ich habe also das gemacht, von dem ich heute immer abrate. Allerdings deshalb, weil ich noch einen ganz grossen Wunschberuf hatte. Ich wollte Historiker werden, und dazu muss man ans Gymnasium. Ohne diesen Wunsch hätte ich die Schulbank nicht mehr vier Jahre weitergedrückt.
Geklappt hat es offensichtlich trotzdem nicht.
Kurz vor der Matura ging ich zur Berufsberatung und habe mich über das Geschichtsstudium schlaugemacht. Erst da kam die Frage auf, was man werden könne, wenn man Geschichte studiert hat. Die Antwort lautete überspitzt gesagt: alles ausser Historiker, weil es kaum freie Stellen gibt. Deshalb habe ich ein Studium gewählt, das ich auch zu meinem Beruf machen konnte.
Kommen wir zum Schluss nochmals zum Vorbild Schweiz und den Amerikanern: Wenn nun Donald Trump doch bei Ihnen anruft, was würden Sie ihm sagen? Switzerland could make America great again?
Wissen Sie, das würde den USA wenig nützen, weil Donald Trump in Sachen Bildung gar nichts zu sagen hat. Die Amerikaner haben ein noch viel föderalistischeres System als die Schweiz. Das Schöne ist, dass einzelne Staaten wie Colorado schon viele Firmen von der Berufslehre überzeugen konnten. Sie sind auf einem guten Weg. Da braucht es keinen Telefonanruf von Donald Trump.