Seit letzter Woche ist es quasi amtlich: Die Verhandlungen mit der Europäischen Union über ein institutionelles Rahmenabkommen befinden sich in der heissen Phase. Die Aussagen von Aussenminister Ignazio Cassis auf Radio SRF, in denen er Zugeständnisse bei den flankierenden Massnahmen und damit eine Aufweichung der «roten Linie» andeutete, sind ein klares Zeichen.
Die Gewerkschaften reagierten empört und forderten eine pickelharte Verteidigung der roten Linie. Ob Cassis' Wortwahl absichtlich oder unbedacht war, spielt keine Rolle. Tatsache ist, dass beide Seiten intensiv verhandeln. Im Gespräch äusserten sich Vertreter der Schweiz und der EU in Brüssel verhalten optimistisch, dass ein Abschluss bis zur «Deadline» Ende Jahr möglich ist.
Seit dem Start im Mai 2014 kamen die Gespräche kaum vom Fleck. Der Streit über die «fremden Richter» und die Personenfreizügigkeit nach der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative belastete die Beziehung zur EU. Keine Glanzrolle spielte auch der frühere Aussenminister Didier Burkhalter, der in Sachen Rahmenabkommen nicht durch grossen Ehrgeiz aufgefallen ist.
Ein «Eurokrat» rollte bei der Erwähnung des Namens Burkhalter nur mit den Augen. Auch auf Schweizer Seite in Brüssel weint kaum jemand dem integren, aber überforderten Neuenburger eine Träne nach. Parallel zu den fehlenden Fortschritten machte sich in der Schweiz Defätismus in Politik und Medien breit. Das Abkommen wurde als chancenlos abqualifiziert.
Schliesslich platzte EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der als Freund der Schweiz die Verhandlungen zur Chefsache erklärt hat, der Kragen. Als er bei seinem Besuch in Bern im letzten November mit vagen Versprechungen abgefertigt wurde, kam es zum Eklat. Die Schweizer Börsenregulierung wurde von der EU nur befristet auf ein Jahr anerkannt.
Die rechtlich umstrittene, aber mit den EU-Mitgliedsstaaten abgesprochene «Strafmassnahme» verärgerte die Schweiz. Es handle sich um einen «inakzeptablen» Schritt, sagt ein Schweizer Vertreter in Brüssel. Kürzlich kündigte Finanzminister Ueli Maurer mögliche Gegenmassnahmen an. Sein Auftritt dürfte primär für das heimische Publikum bestimmt gewesen sein.
Denn mit dem Amtsantritt des neuen Aussenministers Ignazio Cassis ist der lange blockierte Dialog wieder in Gang gekommen. Noch zu Jahresbeginn hatte sich der Bundesrat mit einer bedenklichen Kakophonie zum Rahmenabkommen geäussert. Seither haben sich die Reihen in Bern geschlossen. Die meisten Parteien – natürlich mit Ausnahme der SVP – haben sich im Grundsatz zum Vertrag bekannt. Dafür ist auch die neue personelle Konstellation verantwortlich.
Als FDP-Nationalrat war Cassis Mitglied der EFTA-/EU-Delegation und weilte in dieser Funktion oft in Brüssel. «Er vertritt als Bundesrat genau das, was er jahrelang in kleinen, anonymen Gremien gesagt hat», meint ein EU-Vertreter, der ihn gut kennt. Mit Staatssekretär und Chefunterhändler Roberto Balzaretti sowie Botschafter Urs Bucher, dem Schweizer Missionschef in Brüssel, sind zwei weitere «Veteranen» in Sachen EU in die Verhandlungen involviert.
Das anerkennt man auch bei der EU. «Atmosphärisch hat sich einiges geändert. Verhärtete Fronten wurden aufgebrochen, die gemeinsame Suche nach Lösungen steht im Vordergrund», sagt eine Person, die mit den Verhandlungen vertraut ist. «Die Schweiz weiss wieder, was sie will. Das hat in Brüssel sehr viel bewirkt», bestätigt ein Mitglied der Schweizer Delegation.
Mit Namen will sich niemand zitieren lassen, zu heikel ist die Materie. Zur Entkrampfung beigetragen hat auch die Tatsache, dass die Schweiz den Konflikt um die Personenfreizügigkeit in eigener Regie gelöst hat. Zu einer Beschränkung der Zuwanderung, mit einer Schutzklausel oder anderweitig, wäre die EU ohnehin nicht bereit gewesen, heisst es auf beiden Seiten.
Entschärft wurde auch die Bombe der «fremden Richter», die jahrelang die Debatte dominiert hatten. Die EU kam der Schweiz bei der Streitbeilegung entgegen. «Jetzt ist es an der Schweiz, auf die EU zuzugehen», verlangte kürzlich ein EU-Diplomat und bezog sich in erster Linie auf die staatlichen Beihilfen und die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping.
Diese beiden Punkte hatte lange niemand auf der Rechnung. «Wir haben den grössten Felsen weggerollt und sind jetzt überrascht, dass zwei grosse Steine auftauchten», formuliert es der mit dem Schweiz-Dossier vertraute EU-Vertreter metaphorisch. Das erschwert die Verhandlungen, obwohl die Zeit drängt. Beide Seiten streben einen Abschluss bis Ende Jahr an, denn 2019 ist in der Schweiz und in der EU ein Wahljahr. Ein erneuter Stillstand wäre programmiert.
Wie aber sieht es bei den umstrittenen Punkten konkret aus?
Jean-Claude Juncker stimmte bei seinem Berner Besuch dem Schweizer Vorschlag zu, Streitfälle mit einem Schiedsgericht zu klären. Offen ist noch, in welcher Form der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg einbezogen wird. «Wir stehen kurz davor, diesen Punkt abzuhaken», sagt der EU-Beamte. «Eine Lösung ist in Reichweite», bestätigt ein Schweizer Vertreter.
In der EU sind sie grundsätzlich verboten, in der Schweiz hingegen erlaubt. Die EU will diese Frage im Rahmenabkommen regeln. «Ohne geht es nicht», sagt der EU-Mann. Die Schweiz will höchstens eine allgemeine Formulierung akzeptieren und die materiellen Inhalte in den sektoriellen Verträgen angehen, etwa dem angestrebten Stromabkommen.
Der grösste Widerstand kommt von den Kantonen. Sie kennen zahlreiche Beihilfen, darunter Steuererleichterungen für Grosskonzerne. Selbst die EU anerkennt, dass «der Föderalismus das Hauptproblem ist», so der EU-Beamte. Vertreter der Schweiz verweisen darauf, dass die EU beim Beihilfe-Verbot eine Unzahl an Ausnahmen kennt. «Das ist typisch EU. Wenn man das Prinzip einhält, kann man in der Anwendung flexibel sein», meint ein Schweizer in Brüssel.
Rechte Kreise ziehen in diesem Punkt eine weitere rote Linie. Die Schweiz dürfe keinesfalls die automatische Übernahme von EU-Recht akzeptieren. Das Volk müsse stets das letzte Wort haben. Allerdings spricht selbst die EU von einer «dynamischen» Rechtsübernahme. «Die Schweiz hat Zeit, neues Recht umzusetzen, inklusive Referendum», sagt der EU-Gewährsmann.
Allerdings müsse die Schweiz bei einem Nein mit Konsequenzen rechnen. Bestes Beispiel ist die neue Waffenrichtlinie, die die Schweiz als assoziiertes Mitglied von Schengen/Dublin mitgestalten konnte. Derzeit wird sie im Parlament beraten, die Schützen drohen mit dem Referendum. Bei einem Nein aber droht der Schweiz die Suspendierung ihrer Schengen-Mitgliedschaft.
Sie sind der wohl grösste Stolperstein. Die EU macht klar, dass sie bei der umstrittenen Acht-Tage-Regel ein Entgegenkommen der Schweiz erwartet. «In keinem Land Europas braucht man so etwas», sagt der EU-Beamte. Ein Kompromiss scheint möglich: Die Schweiz schwenkt auf die neue EU-Entsenderichtlinie ein und akzeptiert eine Verkürzung der Anmeldefrist.
Die EU-Kommission könnte der Schweiz eine Übergangsfrist von fünf Jahren einräumen, sagt eine Schweizer Stimme in Brüssel. «Aber die Gewerkschaften haben die flankierenden Massnahmen apodiktisch zum goldenen Kalb erklärt. Es wird schwierig, die Bevölkerung zu überzeugen.» Ein Vertreter der offiziellen Schweiz meint, diese Frage könne «kein unlösbares Problem sein».
Neben diesen Hauptstreitpunkten gibt es weitere Konflikte. Bundesrat Cassis behauptet, das Rahmenabkommen umfasse fünf Teilverträge: Personenfreizügigkeit, Luftverkehr, Güterverkehr auf Schiene und Strasse, Landwirtschaft sowie die Konformität von Industrieprodukten. Die EU hingegen möchte das Freihandelsabkommen von 1973 und das öffentliche Beschaffungswesen ebenfalls einbeziehen. Aus Schweizer Sicht könnte dies eine neue Hürde darstellen.
Und dennoch: Beide Seiten glauben, dass ein Durchbruch bis Ende Jahr möglich ist. «Wir haben beide ein Interesse, eine Lösung zu finden, mit der wir für zwei bis drei Jahre Ruhe haben», sagt der Schweizer Vertreter. «Wir werden es eher schaffen», schätzt der EU-Beamte. Darin mag viel Zweckoptimismus stecken. In dieser heiklen Phase will keine Seite den Stecker ziehen.
Beide Parteien werden sich bewegen und ihre roten Linien aufweichen müssen. Das ist für die Schweiz eine Herausforderung, speziell bei den flankierenden Massnahmen. Und der Zeitdruck ist gross, nachdem jahrelang kaum etwas ging. Es scheint illusorisch, dass die «technischen Fragen» bis zur Sommerpause geklärt werden, wie es Ignazio Cassis vorgegeben hat.
Gleichzeitig ist es wenig wahrscheinlich, dass der Bundesrat die Übung ausgerechnet zu einem Zeitpunkt abbrechen wird, in dem eine neue Dynamik entstanden ist. Die EU könnte in der Schweiz zusätzlich für Goodwill sorgen, indem sie die Börsenäquivalenz frühzeitig um ein weiteres Jahr verlängert oder gar unbefristet gewährt.
Der Druck aber liegt klar auf Schweizer Seite. Die EU jedenfalls warnt eindringlich vor einem Scheitern der Verhandlungen. «Wenn es dieses Jahr nichts wird, würde ich nicht davon ausgehen, dass überhaupt noch etwas daraus wird», sagt eine Quelle im EU-Machtzentrum. Ein Warten auf den Brexit ist keine Lösung, darin sind die Brüsseler Gesprächspartner bemerkenswert einig.