Die Schweiz und die Europäische Union. Müsste man bei Facebook einen Beziehungsstatus für diese Paarung definieren, die Wahl wäre einfach: «Es ist kompliziert.» Man ist aufeinander angewiesen, und dennoch ist das Verhältnis von Halbwissen und Missverständnissen geprägt.
Derzeit verhandeln beide Seiten über ein institutionelles Rahmenabkommen, das den bilateralen Weg konsolidieren soll. Die Schweiz beschäftigt sich deshalb intensiv mit der EU. Aber wie sieht es auf der Gegenseite aus? watson ist nach Brüssel gereist und hat mit Menschen aus beiden Lagern gesprochen.
Die Schweiz ist in Brüssel Chefsache. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat die Verhandlungen über ein institutionelles Rahmenabkommen unter seine Fittiche genommen. Formell sind sie beim auswärtigen Dienst angesiedelt, doch geführt werden sie von Juncker und seinem aussenpolitischen Berater Richard Szostak, der auch für den Brexit zuständig ist.
«In keinen Staats- und Regierungschef eines Drittstaats hat Juncker so viel Zeit und Energie investiert wie in den jeweiligen Schweizer Bundespräsidenten», erklärt seine Sprecherin Mina Andreeva. Der Präsident empfinde die Schweiz nicht als besonders schwierigen Partner: «Er weiss, dass man viel Zeit investieren muss, aber das zeigt seinen Willen», sagt die gebürtige Bulgarin, die in Deutschland aufgewachsen ist.
Beobachter in Brüssel attestieren Andreeva beträchtlichen Einfluss, sie gehöre zu Junckers innerem Kreis. Im letzten November begleitete sie ihn nach Bern, als der Luxemburger sich mit Bundespräsidentin Doris Leuthard traf. Und in seiner Hoffnung auf einen Abschluss des Rahmenabkommens einmal mehr enttäuscht wurde. Die Quittung folgte mit der Verweigerung der unbefristeten Börsenäquivalenz.
In den letzten Monaten kam es zu einer Entspannung. «Wir erkennen eine neue Dynamik», attestiert Mina Andreeva der Schweizer Seite. Das Zeitfenster für das Rahmenabkommen sei aber relativ klein, und dieses gelte es zu nutzen. «Die Schweiz wäre gut beraten, nicht auf den Brexit zu warten», meint Junckers Sprecherin. Denn die Briten strebten die Scheidung an, «wohingegen wir mit der Schweiz eine eingetragene Partnerschaft eingehen wollen».
Skandinavier gelten als unkomplizierte Zeitgenossen. Jørn Dohrmann, Abgeordneter der Dänischen Volkspartei (DVP) im Europaparlament, ist keine Ausnahme. In lockerer Stimmung und Kleidung empfängt er den Besucher aus der Schweiz, zu der er ein enges Verhältnis hat. Seine Frau stammt aus dem Kanton Zürich, und er präsidiert die Delegation des Parlaments, die für die Beziehungen zur Schweiz zuständig ist.
«Die Schweiz und Dänemark haben viele Gemeinsamkeiten», sagt Dohrmann. «Es sind kleine Länder, denen es wirtschaftlich gut geht. Beide haben den Euro nicht übernommen und deshalb ein Problem mit einer starken Währung.» Und die Dänen gehören zu den skeptischen Mitgliedern: «Wir betrachten das Verhältnis zur EU immer noch in erster Linie als Handelsabkommen.»
Die Skepsis gilt erst recht für seine Partei. Die DVP ist bekannt für ihre rabiate Haltung gegenüber dem Islam. Sie ist nicht gegen die EU, verlangt aber Reformen. «Wir wollen, dass gewisse Kompetenzen an die Staaten zurückgegeben werden, vor allem bei den sozialen Rechten», sagt Dohrmann. Wenn jemand aus Rumänien nach Dänemark komme und acht Stunden arbeite, habe die Person schon ein Anrecht auf Kindergeld. «Davon lebt man in Rumänien wie ein König.»
Bei den Treffen mit der Schweizer EFTA-/EU-Delegation sei er Repräsentant des Europaparlaments und nicht seiner Partei, betont Jørn Dohrmann. Man diskutiere im Ausschuss sehr intensiv über das Rahmenabkommen und führe regelmässig Gespräche über den Stand der Dinge. Es sei nicht einfach, aber man werde einen Durchbruch schaffen, «einfach erst im letzten Moment», meint der Däne. Dies sei auch ein Signal im Hinblick auf den Brexit: «Die Schweiz kann zeigen, dass es nicht hoffnungslos ist, mit der EU zu verhandeln.»
Gewisse Kreise spielen die Bedeutung der EU für die Schweiz herunter. Dem widerspricht die Tatsache, dass kürzlich zwei Chefbeamte gleichzeitig in Brüssel weilten: Europa-Staatssekretär Roberto Balzaretti führte weitere Verhandlungen zum Rahmenabkommen. Und Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch, die Direktorin des Staatsekretariats für Wirtschaft (Seco), traf sich mit der Vertretern der EU-Kommission und der belgischen Regierung.
Während Balzarettis Mission diskret verlief, absolvierte die Seco-Chefin mehrere Auftritte. Dazu gehörte eine Konferenz zur Digitalisierung im Château de la Hulpe, einem prachtvollen Anwesen ausserhalb der belgischen Hauptstadt, das einst der Familie Solvay gehört hatte, den Gründern des gleichnamigen Chemiekonzerns. Der digitale Binnenmarkt war auch Gesprächsthema mit der EU-Kommission, sagte Ineichen-Fleisch an einer Medienkonferenz.
Im Mittelpunkt aber standen die US-Strafzölle auf Aluminium und Stahl und mögliche Schutzmassnahmen der Europäischen Union. Sie könnten auch die Schweiz treffen. «Ich habe mich sehr dafür eingesetzt, dass die Schweiz ausgenommen wird», sagte die Staatssekretärin. Sie habe jedoch eine «gewisse Zurückhaltung» bei der Kommission gespürt. Sie verstehe das Problem, fürchte aber eine Umgehung ihrer Massnahmen über die Schweiz.
Ein echtes Problem wären die von US-Präsident Donald Trump angedrohten Zölle auf europäische Autos. «Die Schweiz wäre davon stark betroffen, wegen ihrer Zulieferer für die Autoindustrie», betonte Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch. Ihre Ausführungen verdeutlichen, wie sehr die Schweiz als Exportnation von den Entwicklungen in der Welt betroffen ist. Und wie stark sie von Europa abhängig ist: «Wir sind mittendrin, auch geografisch», so die Seco-Direktorin.
Die Wirtschaft ist das wichtigste Argument, warum die Schweiz auf gute Beziehungen zur EU und einen Zugang zum Binnenmarkt angewiesen ist. François Baur leitet seit 2009 das Brüsseler Büro von Economiesuisse. «In unseren Vorstandssitzungen steht Europa jedes Mal auf der Traktandenliste. Bei den Deutschen ist das vielleicht zweimal pro Jahr der Fall.»
Aus der Schweizer Politik gibt es Kritik, die Wirtschaft sei ungenügend in Brüssel vertreten, dem weltweit zweitwichtigsten Lobbyingplatz nach Washington. «Die Schweizer Wirtschaft ist seit Jahrzehnten Mitglied von Businesseurope, und wir haben seit über 25 Jahren ein eigenes Büro. Die Schweizer Wirtschaft ist präsent und gut vernetzt», heisst es dazu aus der Economiesuisse-Zentrale in Zürich. Es seien auch Schweizer Unternehmen in Brüssel präsent.
Dank den bilateralen Verträgen werde die Schweiz wie ein Mitglied der EU behandelt, etwa bei den technischen Handelshemmnissen, sagt François Baur. Umso heftiger war der Rückschlag durch das Ja zur Masseneinwanderungsinitiative am 9. Februar 2014: «Die Europäer haben das Ergebnis nicht verstanden. Die Arbeit, die ich während fünf Jahren geleistet hatte, war für die Katz.»
Nun hofft Baur auf eine Lösung beim Rahmenabkommen. Wegen der Börsenäquivalenz, die von der EU «als Geisel» gehalten werde, aber auch grundsätzlich. Ein Rahmenabkommen würde die bilateralen Abkommen sichern und die Rechtssicherheit verbessern. Momentan werde intensiv verhandelt, es sei offen, ob sich beide Seiten in den kommenden Wochen einigen werden.
Während sich die Schweiz permanent mit Europa beschäftigt, wird sie in Brüssel kaum wahrgenommen. «Ich verfolge die Schweiz nicht besonders, sie ist klein aus der EU-Perspektive», gesteht Maria Demertzis. Die Griechin ist Vizedirektorin von Bruegel, einer unabhängigen und wegen ihrer Analysen stark beachteten Denkfabrik. Ihr Schwerpunkt sind wirtschaftliche Themen.
Konjunkturell befinde sich die EU in einer guten Phase, «aber die Strukturprobleme der Eurozone sind nicht gelöst», sagt Demertzis. Mit der neuen Regierung in Italien sei ein Unsicherheitsfaktor hinzugekommen, der «ein bedeutendes Risiko» für die EU darstelle. Gefährlich sei auch die aggressive Handelspolitik der USA. Die EU habe keine andere Option, als zurückzuschlagen.
Dies gefährde den freien Handel, weshalb ist die EU sehr vorsichtig sei. «Sie versucht, den Rest der Welt zu verschonen. Aber die Herausforderung ist so komplex, dass ich befürchte, dass wir uns auf eine Lose-lose-Situation und eine grosse Bedrohung für den Multilateralismus zubewegen. Kollateralschäden für Länder wie die Schweiz wären unvermeidlich.» Die EU werde in eine Position gedrängt, in der sie nicht sein wolle, aber keine andere Wahl habe, so die Bruegel-Vizedirektorin.
Immerhin hält der Brexit die übrigen EU-Länder zusammen. Maria Demertzis ist jedoch nicht sehr optimistisch: «Der Brexit ist kein besonders starker Leim. Viele, die mit einem Austritt liebäugeln, schweigen derzeit. Sie wollen abwarten, wie sich der Brexit entwickelt.» Als Ausweg sieht sie ein neues Europamodell mit konzentrischen Kreisen, das Bruegel vor zwei Jahren vorgeschlagen hat. «Es könnte auch Länder umfassen, die nicht in der EU sind, wie Norwegen und die Schweiz.»
Die Verhandlungen über das Rahmenabkommen sind Chefsache. Aber wie viele Freunde hat die Schweiz in Brüssel wirklich? Nicht sehr viele. Alexandre Stutzmann gehört dazu, er hat eine grosse persönliche Affinität zur Schweiz. Der Elsässer, der perfekt Deutsch spricht, war aussenpolitischer Berater des früheren Parlamentspräsidenten Martin Schulz und arbeitet heute in der Generaldirektion für Aussenbeziehungen des Europäischen Parlaments.
«Man kennt die Schweiz in Brüssel nicht», sagt Stutzmann. Wegen den Problemen mit der Personenfreizügigkeit habe sich das in den letzten Jahren geändert, aber nach wie vor beschäftigten sich nur wenige der 751 EU-Abgeordneten mit der Schweiz. «Es ist ein ganz kleiner Klub.» Selbst in seiner Direktion hätten vielleicht zwei Kollegen eine Ahnung von der Schweiz.
Für die Schweiz hingegen sei die EU sehr wichtig. «Sie ist kein Mitglied, aber auch kein normaler Drittstaat.» Dies sei eine Quelle vieler Missverständnisse, meint der smarte Elsässer. «Die Schweiz ist der Welt gegenüber sehr offen, der Schweizer aber nicht immer», sagt er schmunzelnd und zitiert den Schriftsteller Max Frisch, der vom «Hochmut in der Enge» gesprochen habe.
Seit die Schweiz sich bei der Freizügigkeit bewegt habe, könne man über die gegenseitigen Beziehungen etwas optimistischer sein als vor zwei oder drei Jahren, meint Stutzmann und ermahnt gleichzeitig die Schweiz: «Ihr könnt nicht ewig davon ausgehen, dass ihr alles bekommt und nichts geben müsst.» Eine weitere Verzögerung beim Rahmenabkommen sei nicht vorteilhaft: «Die roten Linien auf unserer Seite werden nicht rosa, sondern eher dunkelrot.»