Johann Schneider-Ammann befindet sich in den Ferien. Der 66-jährige Wirtschaftsminister kann die Erholung brauchen. Gerade erst ist er von einer anstrengenden Reise nach Zentralasien zurückgekehrt, und schon Ende Monat muss er eine heikle Mission antreten. Er spricht mit den Sozialpartnern über mögliche Anpassungen bei den flankierenden Massnahmen.
Der Bundesrat hat Schneider-Ammann die «Strafaufgabe» in seiner letzten Sitzung vor den Ferien auferlegt. Damit steht der FDP-Magistrat «vor seiner kniffligsten Aufgabe seiner Bundesratszeit überhaupt», schreibt die «Aargauer Zeitung». Er müsse das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU retten, oder zumindest einen Abschluss in diesem Jahr.
Die Schweiz wolle die Verhandlungen bis Oktober ins Ziel bringen, sagte Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) nach der Bundesratssitzung. Danach werde es schwierig, weil nächstes Jahr in der Schweiz und der Europäischen Union Wahlen stattfinden. Der Bundesrat wolle das Rahmenabkommen, hielt Cassis fest. Es schaffe Rechtssicherheit für die Wirtschaft und ermögliche neue Marktzugangsabkommen.
Als grösster Stolperstein haben sich die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping entpuppt. Die EU hat ihre eigenen Vorschriften verschärft und verlangt nun ihrerseits, dass die Schweiz sich bewegt. Ein Dorn im Auge sind ihr besonders die Meldefrist von acht Tagen und die Kautionspflicht für ausländische Unternehmen, die in der Schweiz tätig sein wollen.
Cassis hat in einem SRF-Interview im Juni ein mögliches Entgegenkommen der Schweiz angedeutet und damit die Gewerkschaften auf die Palme getrieben. Dort haben sie sich festgekrallt. Paul Rechsteiner, St.Galler SP-Ständerat und Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB), hat die Acht-Tage-Regel für «unverhandelbar» erklärt.
Die Debatte wird in einem für hiesige Verhältnisse gehässigen Tonfall geführt. «Seine Glaubwürdigkeit bei den Lohnabhängigen ist im Keller», sagte Rechsteiner im «SonntagsBlick» über Johann Schneider-Ammann. Im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» gab dieser zurück: «Es gibt einen Herrn, der auf eine leicht törichte Art versucht, mich öffentlich zu denunzieren.»
Ob unter diesen Umständen ein Kompromiss möglich ist, scheint zumindest fraglich. Dabei stammt die Acht-Tage-Regel aus einer Zeit, als man sich noch brieflich anmelden musste, wie Schneider-Ammann im Interview mit AZ und watson erklärte. Sie sei im Jahr 2000 ziemlich handgestrickt entwickelt worden – unter anderem mit Beteiligung von Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner.
Der Lohnschutz an sich wird weder vom Wirtschaftsminister noch von Wirtschaftsvertretern in Frage gestellt. Als Entgegenkommen an die Linke wäre eine Aufstockung der Lohnkontrollen denkbar. Schneider-Ammann schloss dies im «Tages-Anzeiger» nicht aus. Fragt sich nur, ob die Gewerkschaften ohne Gesichtsverlust von ihrer eigenen «roten Linie» abrücken können.
Von der EU jedenfalls kann die Schweiz nicht viel erwarten, auch wenn sich der Europäische Gewerkschaftsbund in einem Brief an die EU-Kommission für ihre Position stark macht. «Ohne Entgegenkommen bei der Acht-Tage-Regel wird es nicht gehen», betont ein mit dem Schweiz-Dossier vertrauter EU-Vertreter in Brüssel auf Anfrage von watson.
Er relativiert auch die Aussage von Ignazio Cassis, man sei sich in den übrigen Streitpunkten weitgehend einig. «Bei der Kohäsionsmilliarde und den staatlichen Beihilfen müsste der Bundesrat über seinen Schatten springen», sagt der EU-Beamte. Einzig bei der Streitbeilegung – lange wegen den «fremden Richtern» der vermeintlich grösste Stolperstein – sei man sich praktisch einig.
Allerdings droht in diesem Punkt Ungemach von rechts. Die SVP und ihre «zugewandten Orte» wittern im Schiedsgericht, das dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) vorgelagert werden soll, eine Alibilösung. Am Ende entscheide doch der EuGH. Und die möglichen Sanktionen, wenn die Schweiz die Übernahme von EU-Recht verweigert, werden als Affront gegen die nationale Souveränität bezeichnet.
Der Bundesrat ist nicht zu beneiden. Falls die Gewerkschaften bei den flankierenden Massnahmen stur bleiben, muss er entscheiden, ob er mit dem Rahmenabkommen gegen eine «unheilige Allianz» von SVP und Linken antreten will. Vor dem Volk wäre er nicht so chancenlos, wie immer behauptet wird, denn die Wählerschaft der Linken ist europafreundlicher als ihre Funktionäre. Doch der Vertrag könnte bereits im Parlament scheitern, der Scherbenhaufen wäre perfekt.
Genauso heikel aber wäre es, die Verhandlungen abzubrechen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Die Position der EU dürfte sich eher verhärten, denn Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker tritt im nächsten Jahr ab. Die Verhandlungen mit der Schweiz waren ihm ein persönliches Anliegen. Unter seinem Nachfolger oder seiner Nachfolgerin dürfte dies kaum mehr der Fall sein.
In Brüssel erkennt man dieses Dilemma durchaus. «Es braucht politischen Mut», meint der EU-Vertreter zum Anfang September fälligen Entscheid des Bundesrats, wie es weitergehen soll. Nur ist die Schweizer Politik nicht gerade für ihre mutigen Entscheide bekannt.