Draussen ist es kalt und nass, drinnen starrt die Familie Padruzzi* auf die Kantonsflaggen, die am Bildschirm erscheinen. Die Urschweiz und Appenzell Innerrhoden sagen Ja, das war ja klar. Aber auch Luzern sagt Ja, jetzt auch Bern, mit 51,1. Prozent. «Läck, Bern auch! Das hätte ich jetzt nicht gedacht!» Regula (46) giesst Anna (18) Tee nach. Die Tessinerflagge leuchtet auf. 68,8 Prozent Ja.
Wir sind in Zürich Dietlikon, es ist der Abend des 9. Februar 2014.
«Wow», flüstert Mario (48) und reibt nervös seine Hände an der Kaffeetasse, «das ist ein Erdbeben.» Die Schweiz ist mit Ausnahme der Romandie und weniger Flecken im Norden grün. Jetzt sagt auch Baselland ja. Die Schweiz hat die Masseneinwanderungs-Initiative angenommen. «Shiit». Jan (16) blickt kurz auf und tippt wieder ins Handy. Anna dreht ihren Kopf zu Regula und Mario (48), die erschüttert in ihren Korbsesseln sitzen. «Ihr Idioten», faucht sie, «ich glaub's nicht. Wie war das nochmals? Ein Zeichen setzen? Weil die Initiative eh nicht angenommen wird?» Mario grinst seiner Tochter zu. «Technisch gesehen haben unsere Stimmen nicht gezählt. Zürich hat abgelehnt.» Anna verdreht die Augen und geht kopfschüttelnd in ihr Zimmer. «Verdammte Hinterwäldler», hören sie vom Flur her. Regula zuckt die Schultern. «Vielleicht hat's auch sein Gutes, oder? Vielleicht wird jetzt weniger gebaut.»
Am 9. Februar 2014 platzt in der Schweiz eine Blase. Genauso eine Blase, wie sie auch 2016 mehrmals geplatzt ist; als die Briten im Juni tatsächlich den Brexit beschliessen, als die Amerikaner im November tatsächlich Donald Trump wählen. Die Umfragen haben eine knappes Resultat zur Masseneinwanderungs-Initiative (MEI) vorausgesagt, die Befürworter mobilisierten in den Wochen davor stark. Trotzdem rechneten nur wenige im Berner Politbetrieb damit, dass die Schweizer der MEI tatsächlich zustimmen würden. «Das ist ein Schlüsselmoment der Schweizer Geschichte», sagt der verdutzte Meinungsforscher Claude Longchamp, der mit seinen Prognosen daneben lag, im Fernsehen.
Auch die SVP trifft der Sieg unvorbereitet. Bevor Toni Brunner vor die Presse tritt, beobachten Journalisten, wie er zuerst mit SVP-Generalsekretär Martin Baltisser und seiner Kollegin Silvia Bär in einem Sitzungszimmer verschwindet, vermutlich, um eine Siegeserklärung zu formulieren. Christoph Blocher zieht sich in ein Berner Hotel zurück und gibt sein «Tele Blocher»-Interview. Der Bundesrat müsse jetzt nach Brüssel fliegen und verhandeln, fordert Blocher, auf Hochdeutsch ausnahmsweise, weil man ihm heute auch im Ausland zuhört.
Um 17.30 Uhr treten Justizministerin Simonetta Sommaruga und Bundespräsident Didier Burkhalter vor die Medien, souverän lächelnd. «Das ist Demokratie», sagt Sommaruga und verspricht, der Bundesrat werde die Initiative rasch und konsequent umsetzen. Die ersten Reaktionen aus der EU lassen nicht lange auf sich warten. «Mit diesem Ergebnis haben sich die Eidgenossen erst mal von Europa verabschiedet», lässt der deutsche EU-Parlamentarier Andreas Schwab verlauten. «Die bilateralen Abkommen müssen nun gekündigt werden.» Die offizielle EU «bedauert» den Entscheid.
Manche gewinnen dem Drama auch eine positive Seite ab. Das jahrelange Durchwursteln in der EU-Frage, die nie über die nächste Abstimmung hinaus behandelt wurde, ist vorbei. Die Schweizer haben sich in eine Lage manövriert, die sie immer vermeiden wollten: Sie müssen eine Grundsatzentscheidung fällen. «Das Resultat schafft immerhin Klarheit», schreibt der Historiker Thomas Maissen am folgenden Donnerstag in der Weltwoche. «Das Schweizer Volk hat den Bilateralismus beerdigt, den auch die EU nicht mehr wollte. Von nun an heisst es: Souveränität oder EU-Mitgliedschaft.»
Vielleicht ist der 9. Februar 2014 auch ein fernes Echo vom 6. Dezember 1992, dem Tag, an dem sich die Schweizer letztmals entscheiden mussten, ob sie ein Stück Unabhängigkeit opfern wollen, um näher an Europa zu rücken. 50,3 Prozent stimmten damals gegen den EWR, genau so viele wie am 9. Februar die MEI annehmen. Es ist, als ob die Schweiz 22 Jahre die Europafrage umkreist hat, nur um wieder am selben Punkt zu landen. Wie konnte es so weit kommen? Und vor allem: Wie geht es von hier an weiter?
* Die Padruzzis sind eine fiktionale Familie.
Ich bin der Meinung, es ist das Allerbeste, was die Schweiz machen kann.
Dank der Bilateralen sind wir da bei der EU beteiligt, wo es wichtig ist. Wir haben keinerlei Nachteile, aber jederzeit die Möglichkeit, die Notbremse zu ziehen.
Besser könnte es nicht sein. Sich auf irgendeine Seite festzulegen ist schlichtweg nicht nötig, gerade weil man nicht weiss, wie sich die EU entwickelt.
Dieses Ja zur MEI inkl. der "Umsetzung" zeigt letztlich genau auf, was die Bevölkerung will. Eigenständig bleiben, Bilaterale beibehalten