Martin Bachmann*: Sexualität verspricht uns ein schönes Erlebnis, Genuss, Freude, eine sinnliche Erfahrung. Je nachdem, wie wir uns unsere Sexualität organisieren, ist das ein nachhaltig lustvolles Erlebnis oder eben nicht.
Weil Sexualität etwas Wichtiges ist, das einem am Herzen liegt. Und plötzlich merkt man: Mist, ich verbringe ganze Nächte im Internet mit Pornos. Das Privatleben ist verpfuscht. Die Partnerin läuft davon. Oder sie findet: Du spinnst doch! Je nachdem, wie man seine Sexualität lebt, kann das dazu führen, dass man allein zum Orgasmus kommt, mit der Partnerin aber nicht. Das kann zu Stress führen. Oder wenn man merkt: Ich wäre eigentlich gerne mit meiner Partnerin zusammen. Aber sobald ich Stress bei der Arbeit habe, kommt der Impuls: Ich muss jetzt noch eine treffen, eine neu aufreissen. Das kann ebenfalls Stress sein und zur Verzweiflung führen.
Nicht der einzige. In der Gruppe haben wir Männer, die zu spät zum Orgasmus kommen, gar nicht kommen, zu früh kommen. Aber das Thema Pornokonsum ist eines, zu dem viele häufig Zugang haben. Und bei dem sie sich Sachen antrainieren, die für die Paarsexualität hinderlich sein können. Das ist für viele Männer ein Thema: Wie gehe ich mit der Verfügbarkeit von Pornografie um? Das generelle Thema dahinter ist: Wie kann ich eine würdevolle, eigene Sexualität ohne Paarsexualität leben?
Genau. Selbstbefriedigung hat nach wie vor einen schlechten Ruf. Ein Wichser zu sein, ist immer noch kein Kompliment. Und gleichzeitig machen es fast alle oder sehr viele Männer. Wie kann man eine genussvolle, schöne Form von Selbstbefriedigung entwickeln? Das ist für viele Männer ein Thema.
Dass sie der Selbstbefriedigung einen eigenen Platz geben, variantenreich Selbstbefriedigung machen, sich Zeit nehmen, auf ihre Bewegungen achten, sodass es nicht nur ein schnelles Runterrubbeln ist, nach dem es einem schlecht geht. Sex ist ja immer etwas Körperliches. Das gilt auch für Selbstbefriedigung: Wie stelle ich das physisch her, sodass es wirklich geil ist?
Sexualität kann ganz viele Funktionen haben. Sie kann eine Entspannungshilfe, ein Tröster, eine Belohnung sein und somit ganz viele emotionale Bedürfnisse abdecken. Und Stress am Arbeitsplatz kann dazu führen, dass man sich mit Sex entspannen will. Wenn man das wirklich geniessen kann – warum nicht? Aber wenn es zu einem repetitiven Muster wird und Sex das einzige Mittel ist, um Arbeitsstress abzubauen, wenn Sex ein Allerweltsmittel ist, kann es einengend sein und noch mehr Stress auslösen. Bis man schliesslich findet: Ich bleibe lieber gleich im Bett und hol mir einen runter.
In unserer Gruppe tauchen auch immer wieder die Fragen auf: Wie spreche ich eine Frau an, wenn sie mir wirklich gefällt? Wie kann ich dabei als Mann selbstsicher bleiben? Oder: Was tun, wenn in einer langjährigen Beziehung der Sex nicht mehr neu und kickig ist? Wenn ich dann schnell nach neuen Beziehungen suche, habe ich ein Problem mit meiner Frau. Daher stellt sich die Frage: Wie kann ich meine Partnerin in meinen Augen attraktiv behalten, wie kann ich die Lust weiterpflegen?
Pauschalantworten gibt es nicht. Aber in unserer Gruppe können Männer anfangen zu verstehen, wie sie sexuell funktionieren. Wenn ich zum Beispiel den visuellen Reiz wichtig finde, oder wenn ich mir etwa im Internet antrainiert habe: neu ist geil – dann kann ich anfangen umzuüben, sodass gar nicht mehr die visuellen Reize dominant sind. Stattdessen kann ich körperliche Sensoren vermehrt pflegen, die Berührung stärker wahrnehmen. Das ist eine wichtige Erkenntnis: Sex ist nicht einfach. Sex ist etwas Erlerntes, Erworbenes. Wir haben von Natur aus alle Anlagen dazu. Aber wie wir unser Lusterleben sicherstellen und organisieren, ist antrainiert. Darum kann man es auch verändern und gestalten. Und darum kann man auch eine Ehefrau, deren Körper man seit 20 Jahren kennt, wieder auf eine neue Art wahrnehmen.
Ja, nicht nur ums Anschauen, sondern auch um Berührungen. Auch meine Sexualität – ich bin jetzt 45 – hat sich stark verändert, seit ich 20 war. Bei Männern wird die Erektion mit dem Alter anfälliger. Daher müssen wir immer wieder dazulernen, um unsere Sexualität am Leben zu erhalten.
Einerseits trauen sich Männer mehr. Ich arbeite seit 14 Jahren im Männerbüro. Es ist ja für einen Mann schon peinlich genug, wenn er mit Gewalt ein Problem hat und zugeben muss: Ich habe meine Frau geschlagen, im Stress, aus Überforderung. Aber es ist noch peinlicher zu sagen: Hey, ich kriege keinen Steifen mehr. Das ist für das Konstrukt Männlichkeit der Killer. Heute fällt uns Männern etwas weniger schnell ein Zacken aus der Krone, wenn wir sagen: Ich brauche Hilfe, auch bei diesem Thema. Ausserdem glaube ich, dass auch Frauen ihre Sexualität heute selbstbewusster leben und schnell anmelden, was sie dabei bräuchten und wollen. Das ist auch ein Anlass für die Männer, um über Sexualität nachzudenken und zu reden.
Wenn in einer langjährigen Paarbeziehung Sex ausgelagert wird, etwa ins Internet, ist das vielleicht für beide Seiten eine bequeme Lösung. Aber es ist halt auch langweilig. Die Frauen bekommen dann einen «Mann light».
*Martin Bachmann ist Männer- und Sexualberater. Zusammen mit Martina Stucki leitet er die vom Mannebüro Züri angebotene Gesprächsgruppe «Sexverzweifelt», die am 13. August wieder startet. Infos: 044 242 08 88. (aargauerzeitung.ch)