Sag das doch deinen Freunden!
Das Ziel ist an sich
ehrenwert: Menschen mit Behinderung sollen eine Erwerbsarbeit
ausüben, statt eine Rente von der Invalidenversicherung (IV) zu
beziehen. Die IV-Revision 6a, die 2012 in Kraft trat, sieht die
Integration von rund 17'000 bisherigen Rentenbezügern in den
Arbeitsmarkt bis 2018 vor. Die bisherige Bilanz aber ist ernüchternd.
Die «sehr
aufwendige Umsetzung» des Revisionsziels stehe «in keinem
Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt
platzierten Personen», zitiert der «Tages-Anzeiger» aus einem
Bericht der kantonalen IV-Stellen im Auftrag des Bundesamtes für
Sozialversicherungen (BSV). Das schonungslose Fazit: «Politik und
Verwaltung haben das Potenzial für Rentenreduktionen durch
Wiedereingliederung enorm überschätzt.»
Konkrete Zahlen
werden nicht genannt, «doch schon jetzt ist klar, dass das Ziel
verfehlt wird», schreibt der «Tages-Anzeiger». Dabei betreibt
die IV einen grossen Aufwand: Mit Umschulungen, Coaching oder
finanziellen Zuschüssen an die Arbeitgeber versucht sie,
Rentenbezügern einen Job zu vermitteln. Sie hat ein Video mit «Erfolgsgeschichten» produziert, und die IV-Stellen
verleihen Auszeichnungen an «vorbildliche» Arbeitgeber.
Es ist ein Debakel
mit Ansage. Das BSV musste vor zwei Jahren in einer Zwischenbilanz
selber einräumen, dass die zusätzlichen Anstrengungen zur
Eingliederung den Rentenbestand «bisher nicht im angenommenen
Ausmass reduziert» hätten. Kenner der Materie sind nicht
überrascht: «Wir haben immer gesagt, dass es schwierig sein wird,
Menschen in Rente einen Job zu vermitteln», sagt Urs Dettling,
Leiter Sozialpolitik bei der Pro Infirmis.
Das Ziel der
IV-Revision basiere auf «illusorischen Hoffnungen» und mache
wenig Sinn, meint Dettling: «Man hat sich zu wenig mit dem
Arbeitsmarkt befasst.» Eine Umfrage von Pro Infirmis bei 35 grossen
Schweizer Unternehmen ergab bereits 2010 ein «desolates Bild»:
Die Mehrheit der Firmen reagierte überhaupt nicht, andere lieferten
Antworten wie «Bei uns geht das nicht, Behinderte anzustellen» oder «Wir betrachten das nicht als unsere Aufgabe».
Das Drama begann in
den 1990er Jahren, als die Zahl der IV-Rentner unter SP-Bundesrätin
Ruth Dreifuss stark zunahm. Grund dafür war nicht nur die
hartnäckige Wirtschaftskrise, sondern auch eine lasche
Vergabepraxis. Überspitzt gesagt: Wer laut genug jammerte, erhielt
eine Rente. Das Sozialwerk schrieb hohe Defizite und verschuldete
sich bei der «grossen Schwester» AHV.
Der Druck von rechts
stieg an. SVP-Vordenker Christoph Blocher gab 2003 in einem Interview
mit dem «Tages-Anzeiger» den Tarif durch, indem er einen neuen
Kampfbegriff kreierte: Scheininvalidität. «Es gibt sicher viele
Simulanten in der IV», sagte Blocher, ohne dies konkret belegen zu
können. Doch die «Scheininvaliden» erfüllten ihren Zweck: Bei
der IV kam es zu einem radikalen Kurswechsel.
Zwei Massnahmen
waren die Folge: Neben der angestrebten Rückkehr bisheriger
IV-Bezüger in den Arbeitsmarkt wurde auch die Zahl der Neurentner
halbiert, von jährlich rund 28'000 auf 14'000. Teilweise unterstützt
die IV mit begleitenden Massnahmen ihren Verbleib in der Arbeitswelt.
Häufig aber bleibe diesen Leuten nur der Gang aufs Sozialamt, sagt
Felix Wolffers, Co-Präsident der Schweizerischen Konferenz für
Sozialhilfe (SKOS).
Verstärkt wird
dieser Effekt durch einen nicht ganz neuen Befund: Es gibt immer
weniger Arbeit für Menschen mit tiefer Qualifikation. «Die
Erwerbslosenquote in diesem Segment beträgt rund zehn Prozent»,
sagt Wolffers. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Eingliederung von
IV-Bezügern bislang ein Fehlschlag war. «Wenn es viele
Arbeitssuchende gibt, fragen sich die Firmen, wieso sie jemanden
anstellen sollen, der jahrelang weg war und vielleicht
gesundheitliche Probleme hat.»
Obwohl die
bisherigen Erfahrungen ernüchternd sind, hält die IV an den Wiedereingliederungen fest. «Diese Ziele wurden
politisch festgelegt, und wir erwarten von den IV-Stellen, dass sie
sich daran orientieren», sagte der zuständige BSV-Vizedirektor
Stefan Ritler dem «Tages-Anzeiger». Das angestrebte Sanierungsziel bis 2018 werde die IV erreichen. Sie schreibt seit 2012 wieder schwarze Zahlen, dank einer höheren Mehrwertsteuer und dem Rückgang der
Neurenten.
Den Preis dafür
zahlt die Allgemeinheit, in Form von Sozialhilfe.