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Sozialhilfe

IV-Sanierung: Am Ende bleibt nur der Gang aufs Sozialamt

Der Messerhersteller Victorinox gehört zu den wenigen Firmen, die Behinderte anstellen.
Der Messerhersteller Victorinox gehört zu den wenigen Firmen, die Behinderte anstellen.
Bild: KEYSTONE

Keine Jobs für «Scheininvalide»: IV saniert sich auf Kosten der Sozialhilfe

Die Integration von IV-Bezügern in den Arbeitsmarkt ist ein Fehlschlag. Weil es weniger Neurentner gibt, kann die IV ihre Schulden trotzdem abbauen. Die Zeche zahlt die Sozialhilfe.
11.02.2016, 10:1112.02.2016, 16:12
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Das Ziel ist an sich ehrenwert: Menschen mit Behinderung sollen eine Erwerbsarbeit ausüben, statt eine Rente von der Invalidenversicherung (IV) zu beziehen. Die IV-Revision 6a, die 2012 in Kraft trat, sieht die Integration von rund 17'000 bisherigen Rentenbezügern in den Arbeitsmarkt bis 2018 vor. Die bisherige Bilanz aber ist ernüchternd.

Die «sehr aufwendige Umsetzung» des Revisionsziels stehe «in keinem Verhältnis zur Anzahl der erfolgreich im ersten Arbeitsmarkt platzierten Personen», zitiert der «Tages-Anzeiger» aus einem Bericht der kantonalen IV-Stellen im Auftrag des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV). Das schonungslose Fazit: «Politik und Verwaltung haben das Potenzial für Rentenreduktionen durch Wiedereingliederung enorm überschätzt.»

«Erfolgsgeschichten» bei der Wiedereingliederung.
YouTube/tbd.

Konkrete Zahlen werden nicht genannt, «doch schon jetzt ist klar, dass das Ziel verfehlt wird», schreibt der «Tages-Anzeiger». Dabei betreibt die IV einen grossen Aufwand: Mit Umschulungen, Coaching oder finanziellen Zuschüssen an die Arbeitgeber versucht sie, Rentenbezügern einen Job zu vermitteln. Sie hat ein Video mit «Erfolgsgeschichten» produziert, und die IV-Stellen verleihen Auszeichnungen an «vorbildliche» Arbeitgeber.

Firmen wollen keine Behinderten

Es ist ein Debakel mit Ansage. Das BSV musste vor zwei Jahren in einer Zwischenbilanz selber einräumen, dass die zusätzlichen Anstrengungen zur Eingliederung den Rentenbestand «bisher nicht im angenommenen Ausmass reduziert» hätten. Kenner der Materie sind nicht überrascht: «Wir haben immer gesagt, dass es schwierig sein wird, Menschen in Rente einen Job zu vermitteln», sagt Urs Dettling, Leiter Sozialpolitik bei der Pro Infirmis.

Das Ziel der IV-Revision basiere auf «illusorischen Hoffnungen» und mache wenig Sinn, meint Dettling: «Man hat sich zu wenig mit dem Arbeitsmarkt befasst.» Eine Umfrage von Pro Infirmis bei 35 grossen Schweizer Unternehmen ergab bereits 2010 ein «desolates Bild»: Die Mehrheit der Firmen reagierte überhaupt nicht, andere lieferten Antworten wie «Bei uns geht das nicht, Behinderte anzustellen» oder «Wir betrachten das nicht als unsere Aufgabe».

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Das Drama begann in den 1990er Jahren, als die Zahl der IV-Rentner unter SP-Bundesrätin Ruth Dreifuss stark zunahm. Grund dafür war nicht nur die hartnäckige Wirtschaftskrise, sondern auch eine lasche Vergabepraxis. Überspitzt gesagt: Wer laut genug jammerte, erhielt eine Rente. Das Sozialwerk schrieb hohe Defizite und verschuldete sich bei der «grossen Schwester» AHV.

Blochers «Scheininvalidität»

Der Druck von rechts stieg an. SVP-Vordenker Christoph Blocher gab 2003 in einem Interview mit dem «Tages-Anzeiger» den Tarif durch, indem er einen neuen Kampfbegriff kreierte: Scheininvalidität. «Es gibt sicher viele Simulanten in der IV», sagte Blocher, ohne dies konkret belegen zu können. Doch die «Scheininvaliden» erfüllten ihren Zweck: Bei der IV kam es zu einem radikalen Kurswechsel.

Zwei Massnahmen waren die Folge: Neben der angestrebten Rückkehr bisheriger IV-Bezüger in den Arbeitsmarkt wurde auch die Zahl der Neurentner halbiert, von jährlich rund 28'000 auf 14'000. Teilweise unterstützt die IV mit begleitenden Massnahmen ihren Verbleib in der Arbeitswelt. Häufig aber bleibe diesen Leuten nur der Gang aufs Sozialamt, sagt Felix Wolffers, Co-Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS).

Verstärkt wird dieser Effekt durch einen nicht ganz neuen Befund: Es gibt immer weniger Arbeit für Menschen mit tiefer Qualifikation. «Die Erwerbslosenquote in diesem Segment beträgt rund zehn Prozent», sagt Wolffers. Dies ist ein wichtiger Grund dafür, dass die Eingliederung von IV-Bezügern bislang ein Fehlschlag war. «Wenn es viele Arbeitssuchende gibt, fragen sich die Firmen, wieso sie jemanden anstellen sollen, der jahrelang weg war und vielleicht gesundheitliche Probleme hat.»

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Obwohl die bisherigen Erfahrungen ernüchternd sind, hält die IV an den Wiedereingliederungen fest. «Diese Ziele wurden politisch festgelegt, und wir erwarten von den IV-Stellen, dass sie sich daran orientieren», sagte der zuständige BSV-Vizedirektor Stefan Ritler dem «Tages-Anzeiger». Das angestrebte Sanierungsziel bis 2018 werde die IV erreichen. Sie schreibt seit 2012 wieder schwarze Zahlen, dank einer höheren Mehrwertsteuer und dem Rückgang der Neurenten.

Den Preis dafür zahlt die Allgemeinheit, in Form von Sozialhilfe.

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44 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Micha Moser
11.02.2016 12:55registriert März 2014
Es ist ein schreckliches Gefühl, wenn eine Behinderung nicht ernstgenommen, oder gar heruntergespielt wird. Ich finde die Idee ansich sehr toll, nur können nunmal nicht alle wieder eingegliedert werden. Und das diese, sowieso schon vom Schicksal getroffenen Menschen ein Schlechtes Gewissen haben müssen finde ich geht einfach nicht. Natürlich gibt es Schwarze Schafe aber das macht die wirklich Kranken nicht Arbeitsfähiger.
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Linus Luchs
11.02.2016 16:23registriert Juli 2014
Nehmen wir eine Textstelle aus der Präambel unserer Verfassung (solange sie nicht von einer SVP-Initiative gestrichen wurde): „Dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen.“ Und nehmen wir noch ein Zitat von Winston Churchill: „Der Preis der Grösse heisst Verantwortung.“
Wenn es in der Wirtschaft mehr CEOs gäbe, die den Geist dieser Zitate verinnerlicht hätten, gäbe es Tausende Arbeitsstellen für Menschen mit einem Leistungs-Handicap. Nicht für den monetären Profit, sondern für den menschlichen Gewinn. Leider können HSG-Karrieristen mit solchen Werten nichts anfangen.
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keplan
11.02.2016 10:36registriert August 2014
Und wieder einmal übernimmt die Wirtschaft ihre Sozialverantwortung nicht und schiebt sie auf den Staat (und damit auf uns, nicht auf sich selbst sie können ja Steuern "optimieren")
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