85 Kinder aus Sri Lanka sind zwischen 1973 und 2020 im Kanton St.Gallen adoptiert worden. In keinem Fall wurden die gesetzlichen Vorschriften eingehalten, wie es in einem am Donnerstag präsentierten Forschungsbericht heisst. Zudem zeigt der Bericht erstmals, dass auch ein Politiker direkt in die illegalen Adoptionen involviert war.
Der Fall im Überblick:
Der Kanton St.Gallen beauftragte Forscherinnen des historischen Instituts der Universität Bern, Akten in den Archiven zu suchen und für jedes adoptierte Kind aus Sri Lanka ein digitales Dossier zu erstellen. Dabei kam heraus: Die beteiligten Behörden verletzten oftmals ihre Aufsichtspflicht.
Die Auswertung zeigt, dass die involvierten kommunalen und kantonalen Behörden die damals geltenden Vorschriften in hohem Mass nicht umsetzten. «So ist in keinem einzigen analysierten Verfahren überliefert, dass sämtliche damals geltenden Gesetzesvorschriften eingehalten worden wären», heisst es im Bericht.
Insgesamt 40 Geburtsscheine würden Ungereimtheiten aufweisen. Den Kindern – meist Babys unter sechs Monaten – sei keine gesetzliche Vertretung zur Seite gestellt worden, das Pflegeverhältnis sei mangelhaft beaufsichtigt worden oder aber Kinder wurden Paaren zugesprochen, ohne dass vorgängig die dort vorherrschenden Verhältnisse ausreichend abgeklärt wurden.
Weiterführende Recherchen in sri-lankischen Archiven wären eminent wichtig, schreiben die Verfasserinnen. Mit mündlichen Befragungen sollte auch den Betroffenen und ihren leiblichen Eltern Gehör verschafft werden.
Der Forschungsbericht bezieht sich ausschliesslich auf Unterlagen der St.Galler Behörden und der Stiftung Adoptio von Alice Honegger. Die Stiftung war eine der wichtigsten Adoptionsvermittlungsstellen für Kinder aus Sri Lanka.
Erstmals zugängliche Quellen zeigten auf, dass «Alice Honegger bewusst gewesen sein muss, in kommerzielle Adoptionen verwickelt zu sein», sagte Falk. Honegger sei während fast 50 Jahren federführend bei der Vermittlung der Kinder gewesen. «Adoption ist a very easy matter in Switzerland», habe sie dem für Auslandsadoptionen zuständigen Commissioner in Colombo mehrmals schriftlich versichert.
Weitere Schlüsselfiguren bei den illegalen Adoptionen waren neben Honegger mehrere sri-lankische Anwältinnen und Anwälte, wie der Bericht nun aufzeigt. Sie verlangten bis zu 15'000 Dollar für die Vermittlung der Säuglinge. Alice Honegger kooperierte mit den Anwälten, die Ehepaare profitierten.
1983 erliess der Bund zwar schärfere Einreiseregeln, um dem Kinderhandel bei Adoptionen zu begegnen. Doch die St.Galler Adoptionsvermittlerin Alice Honegger stellte beim Bundesamt für Ausländerfragen den Antrag, dass künftige Adoptiveltern die Einreisebewilligungen für Kinder aus Sri Lanka trotzdem beschleunigt erhalten könnten, und zwar auf dem telegrafischen statt schriftlichen Weg.
Das Begehren wurde zuerst zwar abgelehnt, mit Verweis auf «die grosse Gefahr, dass unter dem Zeitmangel mit illegalen Geldbeträgen versucht wird, irgendwoher ein Kind zu bekommen», wie es im Forschungsbericht weiter heisst.
Doch diese Unterbindung von Honeggers Tätigkeiten war nur von kurzer Dauer. Denn wie sich im Bericht nun zeigt, bekam die Adoptionsvermittlerin Unterstützung von politischer Seite. Mehr dazu unter dem nächsten Punkt.
In der Folge geschäftete Honegger 15 weitere Jahre in Sri Lanka – so viel war bereits vor der Veröffentlichung des Berichts klar. Honegger stirbt 1997. Erst 20 Jahre nach Honeggers Tod leitet der Bund Untersuchungen zur Aufarbeitung der Adoptionspraxis von Adoptio ein.
In den Akten taucht ein prominenter Name auf: der des ehemaligen CVP-Nationalrats, Edgar Oehler.
Denn Oehler war die initiale Zündung dafür, dass Honegger nach der Verschärfung der Einreiseregalen 1983 trotz allem unbehelligt weiterarbeiten konnte: Er setzte sich 1984 (damals als St.Galler Nationalrat) bei einem Treffen mit dem damaligen Direktor des zuständigen Bundesamts für den Antrag ein, den Honegger zuvor beim Bundesamt für Ausländerfragen eingereicht hatte. Daraufhin wurde dem Antrag schliesslich doch stattgegeben. Und die Adoptionsvermittlerin konnte ihre Tätigkeiten wieder nach altem Muster aufnehmen.
Oehler selbst hatte zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Kinder aus Sri Lanka adoptiert, zwei weitere wurden ihm und seiner Frau laut Bericht in den Folgejahren vom zuständigen Bezirksamt zugesprochen.
«Alle Fälle sind anonymisiert, ausser bei Edgar Oehler, der direkt in den Adoptionen involviert war», erklärte Francesca Falk vom Forschungsteam vor den Medien. Und weiter:
Alle vier Schweizer Adoptionsverfahren seien von schwerwiegenden Mängeln betroffen. Es fehlten nicht nur die Entscheide des Gerichts, sondern auch die Geburtsurkunden.
Die St.Galler Regierung anerkenne die Verantwortung des Kantons für die einstigen Verfehlungen in kantonaler Zuständigkeit, sagte SP-Regierungsrätin Laura Bucher am Donnerstag vor den Medien. Der Kanton wolle die Betroffenen bei der Herkunftssuche unterstützen und die Problematik umfassend historisch aufarbeiten.
Der Kanton St.Gallen, der damals die fragwürdige Arbeitsweise von Alice Honegger toleriert habe, stehe in einer besonderen Verantwortung, sagte die Präsidentin des Vereins «Back to the Roots», Sarah Ineichen. Der Verein ist die wichtigste Anlaufstelle für Adoptierte aus Sri Lanka, die mehr über ihre Herkunft erfahren wollen. Neben dem Bund unterstützen auch die Kantone das Betreuungskonzept des Vereins «Back to the Roots».
Die Angaben in den Akten seien konsequent gefälscht worden. «Vielen von uns bleibt deshalb das Recht verwehrt, die eigene Identität zu kennen», so Ineichen.
Die Nachfrage nach der Anlaufstelle von «Back to the Roots» sei sehr gross und werde mit jedem neuen Bericht wachsen. Die Aufarbeitung der illegalen Adoptionen in der Schweiz wurde ausgeweitet.
Der Bundesrat gab eine ergänzende Studie in Auftrag, die klären soll, ob es auch bei Adoptionen aus anderen Herkunftsländern systematische Unregelmässigkeiten gab.
(lab, mit Material der sda)