Die Erde. In Flammen. Darüber in Grossbuchstaben: «KLIMADEMO, 2. 2. 2019». Der Flyer auf dem Tisch kündigt den nächsten Schülerprotest an. Daneben liegen Rucksäcke, Papier und eine Pizza. Es ist ein kalter Vormittag Ende Januar in der Kantonsschule Baden AG. Am Gemeinschaftstisch diskutieren Gymnasiasten über das Thema, das Jugendliche seit Wochen elektrisiert: die Schulstreiks für den Klimaschutz.
«Die Proteste sind eine gute Sache», sagt die 19-Jährige Julia aus Baden, die selbst schon an Kundgebungen mitgelaufen ist. «Je mehr demonstrieren, desto besser.» Lilja, 18 Jahre alt, ergänzt, dass sie seit längerem kein Fleisch mehr esse – zum Schutz des Klimas. Und der 19-Jährige Fabio tippt auf den Flyer und kündigt an, weiter an den Protesten teilnehmen zu wollen. Was in Baden passiert, steht sinnbildlich dafür, was an Schulen landesweit vorgeht. Zu Tausenden haben junge Erwachsene den Unterricht geschwänzt, um für eine bessere Zukunft zu demonstrieren.
«Wir haben es heute mit einer der grössten Jugendbewegungen der letzten Jahrzehnte zu tun», sagt Stefan Rindlisbacher, der an der Universität Freiburg Zeitgeschichte unterrichtet und sich mit der Entstehung von sozialen Bewegungen beschäftigt.
Eine Jugend von der immer wieder behauptet wird, sie sei unpolitisch, interessiere sich nur für ihre Likes auf Instagram und hänge bloss an ihren Smartphones, marschiert plötzlich durch die Strasse und schreit aus einer Kehle: «Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Zukunft raubt!» Und an Familientischen machen Teenager das nachhaltige Leben zum Thema. Sie fordern einen Verzicht auf Fleisch und stellen die Fernreise im Sommer auf die Malediven infrage.
Nicht mit Rebellion und Drogenkonsum fordern Jugendliche ihre Eltern heraus, sondern mit einer zutiefst vernünftigen Haltung. Dennoch stossen sie die Eltern vor den Kopf und bringen sie dazu, ihr Verhalten zu hinterfragen. Es ist eine brave Revolte, die sich hier abspielt und die Rindlisbacher als «die erste grosse Bewegung der Digital Natives» bezeichnet. Eine Bewegung, die nicht einmal einen Namen hat. Aber ein Gesicht: Greta Thurnberg, das 16-jährige Mädchen mit Asperger-Syndrom, das kaum lächelt. In Davos hat sie der Elite ins Gewissen geredet. Als Aushängeschild ist sie umso wichtiger für die Bewegung, da sie kein klares Feindbild und kaum fassbare Forderungen kennt.
Das war bei früheren Jugendbewegungen anders. Die 68er haben die bürgerlichen Strukturen aufgebrochen und dazu beigetragen, dass die US-Armee aus Vietnam abzog. Und in den 80er-Jahren haben Proteste in der Schweiz dazu geführt, dass autonome Jugendzentren gegründet wurden. Die Bewegung, die sich nun formiert hat, mag daran anknüpfen und ist dennoch ganz anders. Denn es geht nicht darum, dass ein Krieg beendet, ein AKW nicht oder ein Jugendzentrum gebaut wird. Jetzt geht es für die Jugendlichen um alles: um die Zukunft unseres Planeten.
Die Klimakrise zu lösen, sei die grösste Herausforderung, der die Menschheit je gegenüberstand, sind die Jugendlichen überzeugt. Und sie haben eine klare Vorstellung: Bis im Jahr 2030 sollen aus der Schweiz keine Treibhausgase mehr in die Luft entweichen, die nicht im Inland kompensiert werden können. Wie sich das bewerkstelligen lässt, bleibt offen.
Die Welt im 21. Jahrhundert ist komplex geworden, und das Anliegen der Jugend lässt sich nicht mehr in ein paar wenige, klare Forderungen giessen. «Anstatt mehr Freiräume fordern die Jugendlichen die Freiheit, auch in Zukunft in einer funktionierenden Welt leben zu können», sagt Historiker Rindlisbacher. Sie seien bereit, sich auch in ihrer persönlichen Freiheit einzuschränken. Statt «Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll» heisst es nun «Kein Fleisch, kein Auto, keine Flugreisen.» Insofern ist die neue Jugendbewegung eine Verzicht-Bewegung. Würde jeder seine eigenen Emissionen drastisch einschränken, wäre die Welt eine andere. Doch wie bringt man die Menschen dazu?
Längst nicht alle Jugendlichen sehen in den Protesten die Lösung für die Klimakrise. «Viele nehmen doch an den Demonstrationen nur teil, damit sie nicht in die Schule müssen», glaubt die 19-Jährige Sarah, Gymnasiastin mit Schwerpunkt Wirtschaft und Recht. Für andere kommt die Teilnahme gar nicht infrage: «Meine Eltern würden mich killen, wenn ich wegen der Streiks schwänzte», sagt die 16-Jährige Juliana, KV-Lehrling aus Zürich. Und Luca, angehender Koch, 16 Jahre alt, meint, in seinem Alter sei es kaum möglich, etwas zu verändern.
Andere hinterfragen ihren eigenen Lebensstil: «Ich nehme nicht den Zug, sondern fliege in die Ferien. Darauf möchte ich auch nicht verzichten», sagt die 19-jährige Selina. «Es wäre unehrlich, wenn ich dann skandieren würde, «nehmt den Zug!».» Ihre Kollegin ist anderer Meinung: «Man muss nicht auf alles verzichten, um sich für den Klimaschutz stark machen zu dürfen», sagt die 18-jährige Lilja.
Die verschiedenen Haltungen sind typisch für die neue Bewegung. «Die heutigen Jugendlichen sind in einer pluralistischen Welt aufgewachsen. Sie lassen eigene Widersprüche zu und thematisieren sie», sagt der emeritierte Soziologieprofessor Ueli Mäder. Die Protestierenden seien stets «Kinder ihrer Zeit». So wurde die 68er-Generation im «Entweder-oder-Weltbild» der industriellen Moderne sozialisiert. Ansprüche und Wirklichkeit mussten hundert Prozent kongruent sein, Widersprüche beseitigt werden. Mäder war selber Teil dieser Bewegung. Rückblickend sagt er: Die moralischen Massstäbe an sich selbst und die Bewegungen seien hehr gewesen, aber auch überfordernd. «Wir sind immer wieder darüber gestolpert, weil wir davon ausgingen, die Welt erklären zu können.»
Diesen hohen Anspruch haben die heutigen Jugendlichen nicht. Sie treten pragmatischer auf. Das böte die Chance zu Bündnissen, um übergeordnete Ziele zu erreichen, sagt Mäder. Und auch in der Vielfältigkeit der Bewegung sieht er einen Vorteil: «Vermeintliche Homogenität ist unrealistisch und schwächt eine Bewegung.»
Nicht nur wuchsen die heutigen Jugendlichen in einer pluralistischen Gesellschaft auf. Auch die Jugendbewegungen differenzierten sich ab den 1990er-Jahren. Es gab die Hip-Hopper, die in Baggy-Pants und Käppi zu dumpfen Bässen wippten. In anderen Clubs zuckten die Körper der Raver nächtelang zu Techno-Musik. Diese verschiedenen Subkulturen und Szenen grenzten sich durch Kleidung, Musik oder Trendsportarten voneinander ab. Trotz ihren Unterschieden wiesen sie eine Gemeinsamkeit auf: Sie definierten sich primär über Konsum und Freizeitbeschäftigung.
Diese Äusserlichkeiten durchbrechen die Schülerstreiks nun. Ihre Fragen drehen sich nicht mehr um den nächsten Trend, sondern ums Überleben des Planeten. Doch ob die Proteste ihre Schubkraft behalten, bleibt offen. Ist es in diesem Winter einfach spannend, auf die Strasse zu gehen und zu demonstrieren, weil das die wenigsten Jugendlichen schon einmal gemacht haben? Oder wird das Jahr 2019 zu einem Schlüssel Jahr wie 1968? Und stossen die Demonstrationen einen langfristigen Wandel in der Gesellschaft an?
«KLIMA-DEMO». Wenn die Schülerinnen und Schüler heute dem Aufruf auf dem Flyer folgen und sich auf den Strassen versammeln, wollen sie zeigen, dass die Proteste der Anfang von etwas Grossem sind.
(bzbasel.ch)