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Die Schweiz kann den Lohnschutz in der EU mitgestalten

Gipser demonstrieren mit der Gewerkschaft Unia gegen Lohndumping bei der Gipserfirma Goger-Swiss auf der FIFA Baustelle, am Mittwoch, 8. April 2015, in Zuerich. (KEYSTONE/Ennio Leanza)
Der Kampf gegen Lohndumping wird auch in der EU intensiviert.Bild: KEYSTONE
Analyse

Die Schweiz kann den Lohnschutz in der EU mitgestalten – wenn sie will

Die EU denkt beim Lohnschutz um. Das eröffnet der Schweiz die einmalige Möglichkeit, in den Verhandlungen über die flankierenden Massnahmen einen Präzedenzfall zu schaffen. Verspielt Bern diese Chance, das Verhältnis zur EU endlich auf eine solide Grundlage zu stellen?
03.09.2018, 16:16
Joseph de weck
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Im Grunde stünde es gar nicht schlecht um die Schweizer Kompromisskultur: Gemeinsam haben Bürgerliche, Linke und Gewerkschafter den Steuer-AHV-Deal aufgegleist. Lösungsorientierter Pragmatismus pur!

Umstritten bleibt die Europapolitik. Kaum ein Tag vergeht ohne Schlagabtausch zum Rahmenabkommen mit der EU, das die Schweiz seit vier Jahren verhandelt, und namentlich zu den flankierenden Massnahmen (FLAM). Diese schützen Handwerker und Gewerbetreibende vor zu starker Konkurrenz aus der Europäischen Union. Vor allem sichern sie das hohe Schweizer Lohnniveau und vernünftige Arbeitsbedingungen.

Joseph de Weck, Politologe
Joseph de Weck ist Politologe in Paris. Zuvor arbeitete er für Bloomberg News in Deutschland und das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) in Bern.

Befürworter des Rahmenabkommens denken an die Exportwirtschaft: Ihr wichtigster Markt ist die EU, ohne Handel kein Wohlstand. Ihrerseits fürchten Gewerkschafter, ein Abkommen gebe es nur um den Preis der flankierenden Massnahmen. Die Schweiz werde zu einem Land mit vielen Tieflohnsektoren, wenn für Arbeitskräfte aus der EU nicht mehr das Schweizer Lohnniveau gelte.

Kamikaze-Angriff auf Gewerkschaften?

Beide haben Recht. Deshalb gründet die Schweizer Europapolitik seit Jahren auf einem Kompromiss zwischen Bürgerlichen und Linken: Öffnung ja, aber sehr kontrollierte Öffnung (was auch dem mächtigen Gewerbeverband bestens ins Konzept passt).

Doch nun spricht SP-Ständerat Paul Rechsteiner, Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, von «Verrat». Aus einem Papier des Wirtschaftsdepartements von Bundesrat Johann Schneider-Ammann gehe hervor: Die beiden FDP-Bundesräte wollen die FLAM massiv schwächen. Der Bundesrat dementiert. Es gehe um technische Anpassungen.

Was wird in der Berner Küche gekocht? Schauen wir zunächst in die Brüsseler Kochtöpfe! Muss die Schweiz wirklich zwischen Export und Lohnschutz entscheiden? Wollen die «EU-Beamten» die Schweizer Arbeitnehmer gängeln, wie es Daniel Lampart sieht, der Chefökonom des Gewerkschaftsbunds? Bleibt also Aussenminister Ignazio Cassis und Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann nichts übrig, als zum Kamikaze-Angriff auf die Gewerkschaften zu blasen?

Im Chaos die Chance übersehen

Die neue europapolitische Debatte ist ein hässliches «Weihnachtsgeschenk». Zwei Sätze der EU-Kommission in ihrer Entscheidung vom 21. Dezember 2017 lösten den Streit aus: Bis Ende 2018 brauche es Fortschritte beim Rahmenabkommen, wenn die Schweizer Börse weiterhin mit EU-Unternehmen Aktiengeschäfte machen wolle.

Paul Rechsteiner, Praesident Schweizerischer Gewerkschaftsbund, rechts, spricht neben Daniel Lampart, Chefoekonom, links, zu den Delegierten, waehrend der SGB-Delegiertenversammlung, am Freitag 29. Ma ...
Daniel Lampart und Paul Rechsteiner schalten bei den flankierenden Massnahmen auf stur.Bild: KEYSTONE

Dabei könnten 70 bis 80 Prozent des Aktiengeschäfts der Schweizer Börse SIX wegfallen. «Es geht um das Überleben der Börse», sagt SVP-Finanzminister Ueli Maurer, dessen Partei die EU sonst als Papiertiger hinzustellen pflegt.

Abwarten und im «Café Fédéral» Weisswein trinken, das ging nicht mehr. Dies umso weniger, als in den Verhandlungen über den Austritt Grossbritanniens aus der EU auch London einen institutionellen Rahmen mit Brüssel vereinbaren muss. Die Briten haben sich jedoch in eine denkbar ungünstige Verhandlungsposition manövriert. Deshalb lieber selbst verhandeln, als später den schlechten Brexit-Deal zwischen Grossbritannien und der Europäischen Union nachvollziehen zu müssen, der für die Schweiz Präzedenzwirkung hätte – dachten sich viele in Bern.

Der Bundesrat drückte aufs Gaspedal. Plötzlich wurden sich Brüssel und Bern in vielem einig. Doch die EU will auch über die FLAM reden. Wiederholt hatte der Bundesrat dies abgelehnt, eine «rote Linie». Trotzdem forderte Bundesrat Cassis im Juni eigenmächtig, die Schweiz müsse «kreative Lösungen» mit der EU finden. Präventiv sprangen die Gewerkschaften an die Decke, und in dem Chaos ging unter: Für die Schweiz ist die Ausgangslage, sich mit Brüssel in Sachen FLAM zu einigen, besser denn je.

Neoliberale EU im Wandel

Dies weil die Europäische Union lernfähig ist. In den 1980er Jahren surfte die EU auf der Liberalisierungswelle. Die Schaffung des Binnenmarkts – auch für Dienstleistungen – wurde zum Motor der Einigung. Eine europäische Sozial- und Arbeitsrechtspolitik war nicht durchsetzbar. Die Öffnung der Märkte setzte die EU-Arbeitnehmer aller Länder in ein Wettbewerbsverhältnis und drückte die Löhne.

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Jean-Claude Juncker und Emmanuel Macron haben einen schärferen Lohnschutz in der EU durchgesetzt.Bild: EPA/EPA

Nun hat der Wind gedreht. Präsident Emmanuel Macrons bislang grösster europapolitischer Erfolg war die Revision der sogenannten Entsenderichtlinie. Im Schulterschluss mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker setzte er sich in Brüssel durch: Neu gilt «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». Ist ein polnischer Dienstleister in Holland tätig, muss er die niederländischen Löhne und Arbeitsbedingungen einhalten – alles andere akzeptiert das Volk nicht, egal in welchem europäischen Land.

Der Berner SP-Nationalrat und Gewerkschaftler Corrado Pardini zog im Tages-Anzeiger das Fazit: Endlich habe die Europäische Union «anerkannt, dass der Ansatz, wie die Schweiz mit der Personenfreizügigkeit umgeht, richtig ist». In der Tat sind es gute Nachrichten für Bern, denn aus Sicht der EU gilt seit je: Keine Kompromisse bei den Prinzipien, dafür umso grössere Kulanz bei den Modalitäten.

Schweiz kann Massstäbe setzen

Neu teilen also die EU und die Eidgenossenschaft das Ziel des Lohnschutzes. Spätestens bis Juli 2020 muss die revidierte Richtlinie in der gesamten EU gelten. Die Umsetzung liegt in der Verantwortung der Mitgliedsstaaten: Sie müssen untereinander aushandeln, wie das Lohnniveau geschützt und gleichzeitig Protektionismus verhindert werden kann. Auch der Europäische Gerichtshof, der in jüngster Zeit arbeitnehmerfreundlichere Positionen einnimmt, wird ein Wort mitzureden haben.

Diese Phase eröffnet Spielraum für die Schweiz – eine seltene Situation. Was Bern in der Lohnschutzfrage mit Brüssel aushandelt, wird Präzedenzcharakter für die ganze EU haben. Ausgerechnet die Eidgenossenschaft hat die Möglichkeit, (nicht nur Schweizer) Europapolitik zu gestalten, indem sie im Abkommen Mechanismen für einen starken Lohnschutz festhält und ihre Erfahrung einbringt.

Die Schweiz sollte die einmalige Chance nutzen, denn in dieser Verhandlung hat sie viel bessere Karten als in Sachen Masseneinwanderungsinitiative. Frankreich und Österreich haben am energischsten auf die Stärkung des Lohnschutzes in der EU gedrängt. Belgien, die Niederlande und Luxemburg sind auf Pariser Linie. England, ehemals der Verfechter eines schrankenlosen Binnenmarkts, hat nichts mehr zu melden.

epa06038400 Volkswagen Slovakia workers on the first day of a strike for higher wages gather outside the Volkswagen factory in Bratislava - Devinska Nova Ves, Slovakia, 20 June 2017. Workers at Volksw ...
VW-Arbeiter in der Slowakei streiken für höhere Löhne. Die Regierung unterstützt die neue EU-Richtlinie.Bild: EPA/EPA

Und Deutschland? Seine Haltung ist zweideutig. Einerseits beklagen sich hauptsächlich süddeutsche Firmen über die FLAM, und Berlin sieht sich in der europäischen Pflicht, Londons liberales Erbe anzutreten. Andererseits fürchten auch viele Deutsche die Tieflohnkonkurrenz durch die östlichen Nachbarn, und ohnehin neigt die Bundesrepublik zum Protektionismus im Dienstleistungsbereich.

Auch die früher völlig marktgläubige EU-Kommission ist nicht länger das grosse Hindernis. Der Generalsekretär des Europäischen Gewerkschaftsbunds, der Italiener Luca Visentini, erklärte in der WOZ, die europäischen Führungskräfte hätten endlich eingesehen, dass Austerität und Neoliberalismus die EU in Gefahr brächten. Visentini intervenierte beim EU-Kommissionspräsidenten zugunsten der flankierenden Massnahmen der Schweiz und ist zuversichtlich, dass Jean-Claude Juncker diesem Aspekt Rechnung tragen wird.

Bewegung in Osteuropa

Die osteuropäischen EU-Länder sind das Pièce de résistance – westeuropäischer Lohnschutz widerspricht ihrem Interesse. Dennoch gibt es auch hier Bewegung. Die Arbeitslosigkeit in Polen liegt mittlerweile bei 3,7 Prozent. Kräftig wachsen die Löhne. Ebenso ist in Tschechien (2,4 Prozent) und Rumänien (4,5 Prozent) die Arbeitslosigkeit auf Rekordtief. In dieser Konstellation wird es für manche osteuropäische Regierung zur Aufgabe, die eigenen Arbeitskräfte im Land zu behalten. So erklärt sich, dass namentlich Tschechien, die Slowakei und Rumänien Macrons Reform der Entsenderichtlinie unterstützten.

Überdies dürfte die zweite Schweizer Ostmilliarde helfen, gerade weil die EU wegen des Brexits Abstriche beim Kohäsionsbudget für die Infrastruktur in osteuropäischen Mitgliedsländern machen muss.

Aber auch Bern muss sich beweglich zeigen: in der Form, nicht in der Sache. Wie das endet, wenn die Schweiz sich im Recht sieht und beteuert, Brüssel werde sich die Zähne ausbeissen, zeigte das traumatische Debakel beim Bankgeheimnis. Obendrein gibt es im Inland nur zu viele, die gern ein Ende der FLAM herbeiführen würden.

Innenpolitik mit anderen Mitteln

Trotz der Möglichkeit einer Einigung zwischen Bern und Brüssel ist das Kind nicht in trockenen Tüchern. Denn Schweizer Europapolitik ist immer auch die Fortsetzung der Innenpolitik mit anderen Mitteln.

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Die Pläne von Finanzminister Ueli Maurer werden die EU kaum beeindrucken.Bild: EPA/EFE

So geht es auch beim Rahmenabkommen nicht nur um die Themen, die offiziell auf dem Tisch sind. Monate vor der FLAM-Diskussion erklärte bereits Gewerkschaftsökonom Lampart im «Blick», es brauche gar kein Rahmenabkommen; ein solches ebne auch den Weg für ein Stromabkommen mit der EU, und ein solches lehnen die Gewerkschaften ab, sie wollen keine Öffnung des Strommarkts im Inland.

Ihrerseits werden die Bürgerlichen nicht müde, die Europapolitik als Vehikel für eigene Interessen zu missbrauchen. Nach der EU-Drohung gegen die Schweizer Börse reagierte der Bundesrat reflexartig: Die Stempelsteuer auf Aktienhandel müsse gestrichen werden. Das wäre ein Steuergeschenk von 1.3 Milliarden Franken an die börsenkotierten Unternehmen und die Anleger, gewiss würde es den Finanzplatz Schweiz stärken. Aber der Börse würde dies wenig helfen, solange sie nicht mit EU-Unternehmen Schweizer Aktien handeln kann.

Der bundesrätliche Reflex erinnert daran, dass die Bürgerlichen eine Reihe von Steuersenkungen für Unternehmen im Köcher haben. Jetzt steht die Steuerreform im Mittelpunkt. Und noch vor Jahresende will das Finanzdepartement erneut die Stempelsteuer auf die Traktandenliste setzen. Nur wenn man auf den Handlungsdruck aus dem Ausland verweisen kann, sind solche Manöver vermittelbar, wissen SVP und FDP. So mag es kein Zufall sein, dass das Finanzdepartement der Schweiz den Luxus einer Pause in der Europapolitik gönnen möchte.

Schlitzohriges Finanzdepartement

Wenige Tage vor dem Tabubruch von Aussenminister Cassis in Sachen flankierende Massnahmen hatte Finanzminister Ueli Maurer einen raffinierten Plan für den Fall vorgelegt, dass die EU Ende 2018 die Äquivalenz in Sachen Schweizer Börse nicht verlängern sollte: Per Notrecht würde beschlossen, dass die Schweiz auf EU-Börsen nur dann Schweizer Aktien handeln dürfe, wenn Bern ebenfalls die Äquivalenz der EU-Börsen anerkannt habe. Bern ist also bereit, ein Stück weit von der Politik der offenen Kapitalmärkte abzukehren, um die EU-Drohkulisse zu neutralisieren.

Doch die Schweiz kann mit diesem schlitzohrigen Manöver der Macht von 27 EU-Mitgliedsländern nicht entweichen – Realpolitik ist nicht Retourkutschenpolitik. Will man die Beziehungen mit dem wichtigsten Nachbarn endlich auf eine solide Grundlage stellen und dabei im Eigeninteresse Impulse für den Lohnschutz weit über die Schweiz hinaus verleihen, muss die Eidgenossenschaft flexibel genug sein, ihre Position in die gesamteuropäische Debatte einzubetten. Eine Möglichkeit, die Gewerkschaften mitzunehmen, wäre es, Bundespräsident Alain Berset mit dem Dossier der flankierenden Massnahmen zu betrauen.

Die Schweiz muss hartnäckig und womöglich geduldig sein in solchen Verhandlungen, die parallel zur Neujustierung der europäischen Lohnpolitik laufen. Aber dem Verhandlungstisch fernzubleiben – letztlich eine Politik des leeren Stuhls – ist die schlechteste Option. Dann gewinnen diejenigen, die kein Interesse haben, Konflikte mit der EU beizulegen. Weil sie vom unhaltbaren Status quo profitieren und ihn verewigen möchten.

Wir erklären dir das institutionelle Rahmenabkommen

Video: Lea Senn, Angelina Graf
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8 Kommentare
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Schneider Alex
04.09.2018 06:09registriert Februar 2014
Wenn trotz flankierenden Massnahmen die Schweiz jährlich bis zu 80'000 Netto-Zuwanderer aufnehmen muss, so lösen die flankierenden Massnahmen das Grundproblem der übermässigen Zuwanderung mit seinen sozialen, infrastrukturellen und integrativen Folgekosten nicht. Es braucht eine wirksame Beschränkung der Zuwanderung, wie das viele grosse aussereuropäische Länder seit langem erfolgreich praktizieren.
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