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Wer sind eigentlich diese ominösen Globalisierungsverlierer?

Die Welt ist vernetzter als je zuvor. 
Die Welt ist vernetzter als je zuvor. bild: shutterstock

Die «Globalisierungsverlierer» sind schuld am Brexit – doch wer sind sie überhaupt?

Die Globalisierungsverlierer sollen verantwortlich sein, wenn das Vereinigte Königreich oder sogar die Europäische Union auseinanderbricht.
29.06.2016, 09:5729.06.2016, 13:28
Daniel Fuchs / Aargauer Zeitung
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Das Wort steht nicht einmal im Duden. Und doch ist es in aller Munde. Rasch waren sich die Experten einig: Die Globalisierungsverlierer haben für das knappe Ja zum Brexit gesorgt. Sie sind schuld, wenn die überstimmten und nun wütenden Schotten die Unabhängigkeit ausrufen – und das Vereinigte Königreich auseinanderbricht. Ihr Votum ist verantwortlich, wenn der Austritt der Briten aus der EU die Globalisierungsverlierer in anderen Ländern anspornt, es ihnen gleichzutun.

Doch wer sind die Globalisierungsverlierer überhaupt? Und ist ihre Zahl in der Tat so hoch, dass sie eine Volksabstimmung entscheiden können? Gegen all jene, die gerne in der Welt herumfliegen, online im Ausland einkaufen und gut verdienen, weil ihre Arbeitgeber die Produkte auf dem Weltmarkt feilbieten?

Echte Verlierer

Das Wort Globalisierung selbst fand im Jahr 2000 offiziell Einzug in den Duden. Zehn Jahre zuvor, nach dem Fall der Mauer, triumphierte der Kapitalismus über den Kommunismus. Es ist die Geburtsstunde der Globalisierung. Oder das Ende der Geschichte, wie Francis Fukuyama es nannte. Die liberale Marktwirtschaft hatte sich als Wirtschaftsprinzip weltweit, also global, durchgesetzt.

Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989: Die Geburtsstunde der Globalisierung. 
Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989: Die Geburtsstunde der Globalisierung. Bild: EPA/DPA

Es folgte die Integration der einzelnen Volkswirtschaften auf einem globalen Markt für Waren, Dienstleistungen, Kapital und Arbeitskräfte. Sie förderte in den Industriestaaten den Bedarf an hoch qualifizierten, hoch ausgebildeten Arbeitskräften. Stellen mit weniger hohen Anforderungen wurden nach und nach in Billiglohnländer ausgelagert. Die längst eingesetzte Automatisierung (und in der Schweiz der starke Franken) verstärkten diesen Strukturwandel nur weiter.

Der Blick in die Statistiken zeigt aber: Es geht uns gar nicht schlechter. Im Gegenteil. Uns geht es immer besser. In Grossbritannien sank die Arbeitslosenquote seit Ende 2011 kontinuierlich auf unter 5 Prozent im letzten Quartal. Und immer mehr Hochgebildete stehen immer weniger Menschen mit tiefem Bildungsniveau gegenüber, auch in der Schweiz. Gute Bildung verringert das Risiko, arbeitslos zu werden.

Anders sieht es freilich in den südlichen EU-Ländern aus. Besonders in Griechenland, Spanien oder Italien stiegen die Arbeitslosenzahlen in den letzten Jahren massiv an. Allerdings auch bei Universitätsabgängern, was mit der Währungskrise zu tun hat.

Schweiz, Griechenland, Grossbritannien – 3 Grafiken

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quelle: oecd, grafik: nch/ssa
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quelle: oecd, grafik: nch/ssa

Was sagt die Abstimmungsforschung

Die Abstimmungsforschung in Ländern wie Grossbritannien gibt nicht besonders viel her, weil Volksreferenden dort nur selten stattfinden. Anders sieht es bei den Wahlen aus. Globalisierungsverlierer seien auch für das Erstarken populistischer Parteien wie des Front National in Frankreich, der AfD in Deutschland oder der Ukip in Grossbritannien verantwortlich, heisst es gemeinhin.

Die Globalisierungsverlierer als Tummelbecken für Populisten? In einem Kommentar hegt Daniel Gros, Direktor des Brüsseler Center for European Policy Studies, seine Zweifel: Wenn in Europa der Teil der potenziellen Globalisierungsverlierer in den letzten Jahren nicht zugenommen hat – warum gewannen die populistischen Parteien trotzdem immer mehr Wähler?

Die Erklärung ist weit komplexer. Der Aufstieg der Populisten und EU-kritischen Kräfte lässt sich nicht einfach so den Globalisierungsverlierern in die Schuhe schieben, die es zweifelsohne gibt.

Wie Abstimmungsergebnisse in der Schweiz zustande kommen, messen im Nachhinein die sogenannten Vox-Analysen. Interessantes Beispiel ist die Vox-Analyse zur Masseneinwanderungs-Initiative der SVP vom 9. Februar 2014. Das Ja fiel mit 50,3 Prozent äusserst knapp aus. Für das Zünglein an der Waage sorgten gemäss Autoren auch in der Schweiz die Globalisierungsverlierer: «Die Initiative profitierte von der aussergewöhnlich starken Mobilisierung der unteren Einkommens- und Bildungsschichten», heisst es. Besonders hoch war die Zustimmung bei «Personen, die ihre eigene wirtschaftliche Situation als passabel, schlecht oder sehr schlecht betrachten».

Untere Einkommens- und Bildungsschichten stimmten für die Masseneinwanderungs-Initiative. 
Untere Einkommens- und Bildungsschichten stimmten für die Masseneinwanderungs-Initiative. 
Bild: KEYSTONE

Die Studienautoren schlossen: «Insofern kann diese Abstimmung auch als Ausdruck eines allgemeineren Zwiespalts hinsichtlich der (subjektiv wahrgenommenen) Vor- und Nachteile der Globalisierung im Allgemeinen sowie der Zunahme der Migrationsströme im Besonderern verstanden werden.»

Ein Loser-Gefühl

Was die Autoren der Vox-Analyse nur in einer Klammerbemerkung antönen, ist zentral: Zu den Globalisierungsverlierern zählen sich viel mehr Menschen, als aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation tatsächlich zu ihnen gehören.

Jetzt auf

Erklärung bietet die Prospect-Theorie der amerikanischen und israelischen Wirtschaftspsychologen Daniel Kahneman und Amos Tversky: Menschen versuchen, auch mit riskanten Strategien Verluste zu vermeiden. Demgegenüber zielen sie auf eine weniger risikoreiche Strategie, wenn Gewinn winkt. Anders gesagt: Verlustängste überwiegen der Hoffnung auf Gewinn. Und in Situationen, in welchen Menschen um ihre Existenz fürchten, wählen sie das Risiko.

Ganz so wie jene zahlreichen gut ausgebildeten und gut verdienenden Briten, die um ihre Existenz bangten, als sie auf ihren Wahlzettel schrieben «Leave». 

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7 Kommentare
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Gaspadin
29.06.2016 10:31registriert Juni 2016
Vor der Wende waren in der Schweiz Arbeitslosenquoten unter 2% normal. Jetzt sind es 5 %. Die Ausgesteuerten werden da nicht mitgezählt und sind soviele wie nie zuvor, von den in die IV abgeschobenen ganz zu schweigen.
Die Lebenshaltungskosten steigen schneller als die Einkommen. Das bildet der Konsumentenpreisindex aber nicht ab, weil dieser die Wohnkosten nicht berücksichtigt. Die Löhne hinken der Produktivitätssteigerung dermassen hinterher, dass sie seit mehr als 15 Jahren fast stagnieren. Die Familien müssen 150 und mehr Stellenprozente arbeiten, statt 100, um überleben zu können. Nix gut
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