Wir hatten da so ein Buch zuhause rumliegen. Eins über die Abenteuer des Odysseus. Ich habe es mit etwa sieben Jahren in die Finger gekriegt – inzwischen ist es ganz abgegriffen, Schokoflecken zieren das Trojanische Pferd, und als ich es heute wieder aufschlug, fielen ein paar Krümel eines wohl 24-jährigen Brotes heraus.
Mit den Bildern und Erzählungen dieses Buches begann ich mich in die Geschichte zu verlieben – und dieser Zustand hält bis heute an.
Die alten Griechen unterschieden nicht zwischen Geschichte, also tatsächlich geschehenen Dingen, und dem Mythos. Eins ging ins andere über. So lesen wir bei Herodot, dass die im 5. vorchristlichen Jahrhundert ausgetragenen Perserkriege (Der Film «300» und so!) eigentlich bereits mit den mythologischen Frauenrauben begonnen hätten. Und als dann Paris die schöne Helena dem spartanischen König Menelaos entriss und nach Troja brachte, war dieser «Besitzverlust» Grund genug, sich an den Trojanern mit einem unerbittlichen Krieg zu rächen.
Auch historische Anekdoten sind oft Mythen, winzige, detailverliebte Geschichten innerhalb der Geschichte. Und auch sie sind schuld an meiner ungebrochenen Geschichtsvernarrtheit.
Mein Vater, damals selbst Lehrer, sass unten in der Garage, wohin er zum Pfeifenrauchen verbannt wurde. Ich setzte mich zu ihm und lauschte seinen Erzählungen über Napoleon, dieses «militärische Genie, das bei Waterloo nur Pech hatte (Marschall Grouchy war schuld), der Erschaffer des genialen Code civil, dieser geistig unglaublich bewegliche Mensch, der nebst all seinen Eroberungszügen stets noch seine Geschwister, allen voran seine Mutter, zufriedenstellen musste.»
«Weisst du, dieser clevere Korse zwang den Papst, bei seiner Krönung dabei zu sein. Er wollte den sakralen Segen, aber keinerlei Abhängigkeit von der Kirche. Als dann der Pontifex aus seiner Kutsche stieg, an der Stelle, wo Napoleon es befohlen hatte, stand er kniehoch im Schlamm. Der Papst in seinen feierlichen Gewändern im Dreck! Welch Demütigung!»
Mein Vater lachte selig.
Ziemlich sicher ist diese Anekdote fiktiv. Vielleicht hat sie mein Vater irgendwo gelesen. Oder er hat sie selbst erfunden. Jedenfalls entbehrt sie dessen, was wir so hochtrabend Wahrheit nennen. Aber ist das überhaupt von Belang? Drückt die Geschichte am Ende nicht genau das Napoleonische am Wesen dieses Mannes aus? Erzählt sie nicht von einem ziemlich selbstgefälligen Machtmenschen, der mit seiner Schlammaktion den Papst und damit die gesamte Kirche zusätzlich demütigen wollte?
Wo hört die Wahrheit auf und wo beginnt die Erfindung? Und gibt es Wahrheit in der Fiktion?
Das Bild, mit dem Napoleon Jaques-Louis David beauftragte, ist ebenso vollgemalt mit kleinen Lügen. Die Mutter, im Bild in der Mitte der untersten Zuschauerloge zu sehen, scheint der Zeremonie vorzusitzen. In Wirklichkeit war sie gar nicht anwesend. Sie wollte keine Krönung. Doch sicher wollte Napoleon sie dabei haben.
Selbst die Marmorsäulen im Chorsaal der Notre Dame standen nicht derart tadellos im Raum, wie sie das im Bild tun. Sie waren beschädigt, von Rissen und Bruchlinien übersät.
Geschichte erfordert einen stets wachsamen, kritischen Kopf, mit dem man gegen solche Fassaden anrennen muss bis sie bröckeln. Und irgendwo im Schutt findet man dann auch ein paar Bruchstücke der Wahrheit.
Jungen Menschen eine solche Denkfähigkeit beizubringen, liegt in der Verantwortung der Geschichtslehrer. In jüngster Zeit werden allerdings Stimmen laut, die über den «regelrechten Niedergang des Schulfachs» klagen. Mario Andreotti, der 30 Jahre an Kantonsschulen in St.Gallen und Uri unterrichtet hat, gehört dazu. Und auch Caspar Hirschi, Professor für Allgemeine Geschichte an der Uni St.Gallen, findet den geringen Wissensstand von Studenten prekär:
Was ist in unseren Schulen los?
Im 20. Jahrhundert riss man keine trügerischen Fassaden herunter, um historische Wahrheiten aufzuspüren. Vielmehr baute man sie auf. Der Geschichtsunterricht der Volksschule war vorrangig dazu da, aus den Schülern patriotische Bürger zu formen und die nationale Identität zu stärken. Es wurde nichts hinterfragt, es wurde vor allem bewundert. Da waren die glänzenden Schlachten der Vorfahren, die sagenhafte Gründung der Eidgenossenschaft, all die heroischen Taten, die zur Entstehung der Schweiz geführt hatten. Die Willensnation brauchte einen gemeinsamen Wertehorizont, ganz besonders in Zeiten der Geistigen Landesverteidigung.
Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren. Der schweizerische Geschichtsunterricht hat sich Europa geöffnet, interessiert sich für die ganze Welt und ihre Vergangenheit. Er muss keine staatspolitische Aufgabe mehr erfüllen. «Doch mit dem Rückzug des traditionalistischen Unterrichts verliert die Geschichte in der Schule an Gewicht», schreibt Urs Hafner in der «NZZ».
Ein schleichender Stundenabbau des Fachs in Schweizer Volksschulen macht sich tatsächlich bemerkbar, wie eine Nationalfondstudie der Erziehungswissenschafterin Karin Manz zeigt. Und nicht nur das. Geschichte wird in den meisten Kantonen seit zehn Jahren mit anderen Fächern wie Geographie zusammengeworfen. Im Lehrplan 21 heisst das neue Sammelfach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» – und meint damit so gut wie alles. Wie aber soll man den Sekundarschülern alles beibringen, wo der kantonale Schnitt für dieses «Konglomeratsmonstrum» bei drei Stunden pro Woche liegt?
Wir haben also zeitliche Einsparungen auf der einen und hehre Ziele auf der anderen Seite. Das Zauberwort des Lehrplans 21 lautet «Kompetenzen». Es werden nicht mehr länger die Inhalte formuliert, die die Lehrer zu vermitteln haben, sondern was die Schüler am Ende wissen und können sollen. Im Pädagogenjargon klingt das so:
«Wissen als Kompetenz wird in einem breiten Sinne verstanden: als direkt nutzbares Verfügungswissen, als Reflexionswissen und als Orientierungswissen. Die dem Lehrplan zugrunde liegende Idee der Kompetenzorientierung bedeutet keine Abkehr von einer tief verstandenen fachlichen Wissens- und Kulturbildung, sondern im Gegenteil deren Verstärkung und Festigung durch ein auf Verständnis, Wissensnutzung und Können hin orientiertes Bildungsverständnis.»
Aus dem Lehrplan 21
Am Ende dieses Prozesses sollen also selbstständig denkende, kritische Menschen stehen. Sie sollen fähig sein, Mythen zu dekonstruieren, Texte und Quellen zu hinterfragen, sinnvolle Zusammenhänge herzustellen. Kurz, ein historisches Bewusstsein entwickeln.
An die Stelle der grossen historischen Erzählungen und dem traditionsverpflichteten Geschichtsunterricht ist die Pädagogik getreten:
Das ist nicht schlecht. Nur geht dabei sicher viel verloren. Denn die Fragen der Schüler zu einem bestimmten Sachverhalt können doch überhaupt erst in ihre Köpfe steigen, wenn sie bereits über ein solides Wissen darüber verfügen. Dieses Wissen erfordert Zeit. Die Jugendlichen müssen mit Geschichten, mit Erzählungen konfrontiert werden.
Wie sollen sie sonst gedanklich auf der Metaebene herumturnen können, wenn ihnen die Ebenen nur spärlich bekannt sind? Wie soll das Zwischen-den-Zeilen-Lesen funktionieren, wenn für die Zeilen gar keine Zeit bleibt?
In drei Jahren, mit jeweils durchschnittlich drei Lektionen pro Woche, sollen die Schüler gemäss dem neuen Lehrplan die Geschichte vom Beginn der Neuzeit bis heute in ausgewählten Längs- und Querschnitten erzählen können, dabei Statistiken, Bilder und Karten richtig lesen. Verstehen, warum zwei Weltkriege die Erde im 20. Jahrhundert verdunkelten, was Faschismus, Kommunismus, Holocaust und Globalisierung bedeuten.
Sie sollen die Schweizer Geschichte kennen und unser demokratisches System verstehen, auf einer Weltkarte aktuelle Konflikte zeigen und kurz erläutern können. Das sind nur einige Beispiele der unzähligen Kompetenzen, die sich die Schüler im Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» aneignen sollen. Dazu gesellt sich noch die Geographie mit ihren Rohstoffen, erneuerbaren- und nicht erneuerbaren Energieträgern, Wetterphänomenen und dem Klimawandel.
Die Tiefe von Verständnis, die die Pädagogik mit ihrem Kompetenzensystem fordert, steht doch in keinem Verhältnis zur Zeit, die dafür zur Verfügung steht. Wie soll diese Übermenge erhabener Ziele jemals erfüllt werden?
Mir schwant, dass damit nicht viel mehr möglich ist als ein schäbiges Gekratze an der Oberfläche. Nun ist es aber so, dass ein Lehrplan für sich alleine noch lange nichts aussagt. Das weiss ich auch von meinem Vater. Lehrer mögen es nämlich nicht, wenn man ihnen zu dreist reinschwätzt. Sie sind die Staatsbeamten mit der grösstmöglichen Freiheit. Und die Schulzimmer sind ihre Spielräume. Deshalb hoffe ich auf all die Geschichtslehrerinnen und -lehrer da draussen, die sich von diesem engen Zeitkorsett nicht die Luft abschnüren lassen – und weiterhin tapfer den Kampf gegen die Unwissenheit kämpfen.
Geschichte wird da gesellschaftspolitisch relevant, wo sie hilft, gegenwärtige Zustände zu erklären. Heiss wird aktuell debattiert über den Wert von Wahrheit und die Lügen der Medien. Das Unwort der Trump-Ära heisst «fake news». Und in ihr scheint ein allgemeines Klima des Misstrauens gegenüber jeglichen Informationen zu herrschen.
Misstrauen ist nicht schlecht, es kann das Nachdenken fördern, doch wenn es gepaart mit Unwissenheit und ideologischen Verdrehungen daherkommt, endet das Ganze in wirren Verschwörungstheorien oder gefährlicher Geschichtsverdrehung.
Wünschenswert in dieser Zeit der politischen Extreme, wo die Probleme der Gesellschaft meist emotional diskutiert werden und Ideologien das Nachdenken ersetzen, wäre eine weitgehend objektive Hinwendung zur Sache. Der Blick auf die Vergangenheit vermag das zu leisten – sofern er nicht entstellt wird von politischen Intentionen.
Ein Beispiel dafür: der Historiker Caspar Hirschi schreibt in einem Artikel für die «NZZ» über die Nazi-Vergleiche, die im Zusammenhang mit Trump immer wieder gezogen werden. Darin betont er, dass Trumps Tiraden gegen «fake media» von Journalisten und Historikern gerne mit Hitlers Gleichschaltung der Presse verglichen werden. Sein Einreiseverbot für Bürger der sieben muslimischen Länder mit der Judenverfolgung im «Dritten Reich».
Der Vergleich funktioniere aber nur so lange, wie man diesen ahistorisch ziehe, schreibt der Historiker weiter. Denn die Weimarer Republik war zum Zeitpunkt von Hitlers Machtergreifung noch keine fünfzehn Jahre alt, ihre parlamentarische Demokratie wurde «weit über den Kreis der Nationalsozialisten hinausreichenden Teil der politischen, der intellektuellen und der wirtschaftlichen Elite abgelehnt». Und die Männer, die in ihr Politik machten, hatten einen verlorenen Weltkrieg überlebt, durch den sie «brutalisiert und radikalisiert» worden waren.
Wende man dieses Szenario nun auf die heutige USA an, hiesse das: «Die amerikanische Demokratie entstand erst 2002 als Folge eines katastrophalen Kriegsausgangs, und bis heute wollen sie zahlreiche Politiker und Richter, Professoren und Journalisten gleich wieder abschaffen, weil sie in ihren Augen eine zum amerikanischen Volkskörper unpassende Staatsform darstellt.»
Natürlich ist auch das überspitzt formuliert. Hirschi verdeutlicht damit aber, wie schwierig historische Vergleiche sind. Und wenn sie ohne viel Überlegung gezogen werden, sind sie leider nicht viel mehr wert als ein kurzer Aufschrei. Reflexartig empört man sich, «Trump ist wie Hitler!» Doch wo bleibt im Ganzen die gewinnbringende Erkenntnis?
Geschichte ist die Summe vom menschlichen Treiben hier auf der Erde. Je besser wir sie kennen, desto besser kennen wir uns.
Wahrscheinlich werden wir den Mythos niemals überwinden. Es gibt keine eine Wahrheit. Keine einfachen Antworten. Doch wenn uns bewusst ist, dass Informationen gefärbt sein können, dass hinter jeder Erzählung eine Intention steckt, vermögen wir die Dinge wenigstens vielschichtig zu interpretieren. Dies – so bleibt trotz all der Widrigkeiten zu hoffen, soll der Geschichtsunterricht leisten.
Nur so schaffen wir die Möglichkeit, Lehren aus unseren Fehlern zu ziehen. Und müssen nicht wie Odysseus auf dem Meer umherirren – weil wir nicht Kartenlesen können.