Frau Milos, Anorexie ist eine lebensgefährliche Krankheit. Wie kommt man dazu, das als Lifestyle zu feiern?
Gabriella Milos: Wir leben in einer Wohlstandsgesellschaft, in der Essen im Überfluss vorhanden ist. Gleichzeitig soll man dünn sein. Dazu hören wir viele widersprüchliche Informationen zur
Ernährung. Das führt zu Verunsicherung, vor allem bei Jugendlichen. Plötzlich ist es cool, nicht zu essen. Nichtessen wird als Leistung angesehen.
Was erhoffen sich Betroffene?
Übergewichtige haben einen niedrigen Status. Sie haben weniger Freunde, werden nicht zu
Parties eingeladen, haben mehr Mühe, eine Stelle zu finden. Die Dünnste zu sein, wird zum
erstrebenswerten Ziel, es gibt Jugendlichen das Gefühl, etwas Spezielles zu sein. Zu Beginn kann
die Krankheit Teenagern, die auf der Suche nach sich selbst sind, eine Identität geben.
Was lösen Pro-Ana-Gruppen aus?
Sicher nicht alle, die solche Websites besuchen, folgen diesen absurden Empfehlungen. Aber bei Betroffenen verhindern die Informationen, dass sie aus dem Teufelskreis der
Krankheit herauskommen. Leute, die sich behandeln lassen, haben in der Regel zwei Seelen in
der Brust: Eine möchte ein normales Leben ohne Krankheit. Die andere sehnt sich nach dem
Hochgefühl, das sich einstellt, wenn man den Hunger besiegt. Es gibt Teenager, die von ihrer Pro-Ana-Gruppe dazu bewegt werden, die Behandlung abzubrechen.
Dabei hätten sie das Gegenteil nötig.
Richtig. Die meisten Betroffenen suchen oft nicht selbst Hilfe, weil sie nicht wahrnehmen, dass sie krank sind. Die Krankheit beginnt oft mit einer Euphorie, nachdem die ersten Kilos purzeln. Dann geht es immer weiter, bis das ganze Leben von der Magersucht bestimmt wird und psychische oder körperliche Schäden entstehen. In einer solchen Pro-Ana-«Sekte» zu sein, kann einen rechtzeitigen Ausstieg verhindern.
Sie sprechen von einer Sekte.
Ja, oder eine verkehrte Selbsthilfegruppe, eine «Krankmachgruppe». Pro-Ana-Teenager suchen sich einen «Zwilling», der sie beim Hungern unterstützt. Und es gibt Regeln wie: Wer isst, ist schwach. Und: Du kannst nie zu dünn sein.
Was lösen solche Regeln aus?
Sie können krank machen. Sie tragen dazu bei, dass das ganze Leben von der Magersucht bestimmt wird. Die Jugend ist eine kritische Zeit, in der sich viel im Leben eines
Individuums ändert. Für Jugendliche mit Magersucht wird es sehr schwierig, sich weiterzuentwickeln: eine Lehre zu absolvieren, einen Freundeskreis aufzubauen, auf eigenen Beinen zu stehen. Alles dreht sich ums Essen. Ich kenne Anorexie-Frauen, die schlafen mit Kochbüchern auf dem Nachttisch. Nicht, weil sie sich fürs Kochen interessieren, sondern weil im Leben kein anderes Thema Platz findet als das Essen oder eben das Nichtessen.
Wie lange gibt es Pro-Ana schon?
Es ist kein neues Phänomen, ich kenne es schon seit ungefähr 15 Jahren. Aber das war vor der Zeit der sozialen Medien. Diese machen es Teenagern noch einfacher, solche Seiten zu besuchen, sich zu vernetzen und in der Krankheit zu bestärken. Etwa in Facebook-Gruppen oder auf WhatsApp.
Welche Rolle spielt das Internet?
Wir alle vergleichen uns mit unseren Mitmenschen. Bei Jugendlichen spielt das eine besonders grosse Rolle. Während man das früher vor allem auf der Strasse oder in der Schule tat, gehört es heute dazu, sich selbst auch auf Facebook oder Instagram zu inszenieren.
Dabei entsteht ein Konkurrenzkampf.
Es kann ein Konkurrenzkampf entstehen. Und der kann die Krankheit durchaus begünstigen. Doch auch abseits von sozialen Medien sind Jugendliche im Internet ständig mit einem unrealistischen Schönheitsideal konfrontiert.
Die Regel eines Pro-Ana-Forums lautet: Schau «Germany's Next Topmodel».
Und das neben Regeln wie «Essen ist schlecht» und «Du kannst nie dünn genug sein». Da sehen Sie mal, was diese Sendung auslösen kann.
Verbieten kann man sie wohl kaum.
Nein, aber solche Model-Sendungen bräuchten klare Regeln: Etwa, dass Bewerberinnen einen gesunden Mindest-Bodymassindex haben müssen.
Was aber verboten wurde, sind Pro-Ana-Seiten, und zwar in Frankreich.
Jugendliche sollten geschützt werden. Sie finden zwar Gleichgesinnte auf diesen Plattformen. Aber wenn diese sich nicht helfen, sich positiv zu entwickeln oder gesund zu werden, sehe ich keinen positiven Aspekt in solchen Gruppen.
Kürzlich wurde bekannt, dass Pädophile auf Pro-Ana-Seiten auf Opferfang gehen.
Das ist besonders verwerflich. Die Mädchen kämpfen mit einer psychischen Krankheit und sind deshalb sehr verletzlich. Ich hoffe, dass es sich dabei um einen Einzelfall gehandelt hat.
Wie viele Magersüchtige treten Pro-Ana-Gruppen bei?
Das ist sehr schwierig zu sagen, weil Betroffene gegen Aussen oft sehr verschwiegen sind, was ihre Krankheit betrifft. Das könnte ein Grund sein, warum sie Gleichgesinnte im Internet suchen. In der Gesamtbevölkerung leidet ca. 1 Prozent der Frauen an Anorexie und zirka 2 Prozent an Bulimie.
Wie sieht es mit Männern aus?
Bei der Anorexie sind etwa ein Sechstel der Betroffenen männlich. Jungen und Männer haben es übrigens oft schwerer als Frauen, denn sie zieren sich in der Regel noch viel mehr, Hilfe zu suchen.