Jürg Jegge (74) staunt rückblickend selber, was 1976 nach der Publikation seines Buches «Dummheit ist lernbar» passiert war. Vierzig Jahre später sagte er in einem Interview mit der «Weltwoche»: «Ich war von einem Tag auf den anderen vom schlechtesten Lehrer Embrachs zum gefeierten Pädagogen geworden. An jedem Kiosk konnte man das Buch kaufen, ich war in Illustrierten, im Fernsehen, im Radio, überall.»
Als Autor mit einer Auflage von 200'000 Exemplaren wurde er unantastbar. Mit dieser Autorität schaffte er es, Kritiker zum Verstummen zu bringen und Mehrheiten für seine Schulversuche zu gewinnen. Die Freiheiten nutzte er, um seine Schüler sexuell zu missbrauchen.
Die strafrechtliche Aufarbeitung wurde vor einem halben Jahr abgeschlossen. Die Straftaten seien verjährt, heisst es in der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft.
Die politische Aufarbeitung wurde diese Woche abgeschlossen. Die Schulbehörden hätten Jegge zu viele Freiheiten gewährt, heisst es in einem externen Untersuchungsbericht.
Nun steht die pädagogische Aufarbeitung vor ihrem Abschluss. Die Pädagogik-Professoren Damian Miller und Jürgen Oelkers geben im Herbst das Buch «Ist Dummheit lernbar?» heraus. Miller macht auf Anfrage die Resultate schon jetzt bekannt.
Die beiden Wissenschafter der Pädagogischen Hochschule Thurgau und der Universität Zürich haben gemeinsam mit anderen Autoren den Bestseller von 1976 nochmals gelesen und auf seinen pädagogischen Gehalt abgeklopft. Dabei bleibt nicht viel übrig, eigentlich nur der originelle Titel.
Der Inhalt ist gemäss der Analyse der beiden Pädagogen pseudowissenschaftlich und wurde vierzig Jahre lang überschätzt. So kam es, dass Jegge bis zuletzt, zum Beispiel im zitierten «Weltwoche»-Interview, gefeiert wurde. Nach dem Aufliegen des Skandals strich der Berner Zytglogge-Verlag Jegges «Dummheit» zwar aus dem Programm. Dennoch ist in der Lehrer- Generation, die mit dem Buch gross geworden ist, bis heute Respekt für Jegges Buch vorhanden.
Jegge traf den Zeitgeist, weil er nach 1968 wie viele andere die sozio-kulturellen Einflüsse betonte – deshalb der Titel. Was andere staubtrocken formulierten, erzählte er bunt und anschaulich. Das Buch lebt von den geschilderten Beispielen von «Schulversagern».
Miller erklärt die Faszination: «Die Fälle machen extrem betroffen, auch heute noch. Sie machen das Buch irgendwie glaubwürdig und lassen Jegge als einzige Person erscheinen, die sich richtig für die Kinder einsetzt.»
Doch mittlerweile ist bekannt, dass Jegge die Schüler-Beispiele inszeniert hat und diese teilweise sogar erfunden sind. Miller: «Wenn man nun die Fälle aus dem Buch entfernen würde, bliebe nur noch eine Collage von Gedanken und Bruchstücken der Schulkritik anderer.»
Wissenschaftliche Standards erfüllte das Buch schon in der damaligen Zeit nicht. So nennt Jegge die Wissenschafter, die er kritisiert, nicht beim Namen. Dadurch entziehe er das Buch dem Diskurs, moniert Miller. Zudem schreibe er stets von Widerständen. Mit diesem Begriff aus der Psychoanalyse pathologisiere er die Kritik vorweg, die man gegen ihn äussern könnte.
Seine Thesen konnte Jegge zudem mit seinen Schulversuchen nicht wissenschaftlich belegen. «Der durchschlagende Erfolg seiner Methoden, wie er ihn beschreibt, wurde in der Schulpraxis nicht durch externe Personen bestätigt», sagt Miller. Dennoch hielt der Hype um Jegge jahrzehntelang an. Auf seinem Regal stapelten sich die Preise. Drei Beispiele: 1977 ehrte ihn der Kanton Zürich, 1999 erhielt er den Robert-Mächler-Preis und 2011 den Doron-Preis. Miller wundert sich: «Diese Preise legitimieren sich nicht. Das Buch hat eine Faszination ausgelöst, aber eine kritische Rezeption hat praktisch nicht stattgefunden.»
Auch Jegges Qualifikation wurde nicht hinterfragt. Er unterrichtete 14 Jahre als Oberstufen-Lehrer für Sonderklassen, obwohl er doppelt unqualifiziert war. Er besass weder ein Diplom für Oberstufen noch für Sonderklassen. Sein Studium in Pädagogik und Psychologie hatte er nach einem Jahr abgebrochen.
Dass Jegge mit seiner Lebenslüge ein ganzes Land blenden konnte, ist auch ein Versagen der Pädagogik. Die damals noch junge Wissenschaftsdisziplin arbeitete in dieser Zeit noch nicht wie heute mit empirischen Methoden. Dennoch meint Miller: «Eigentlich hätten wir schon damals merken müssen, dass das kein Vorzeige-Pädagogikwerk ist.»
Die Pädagogen liessen nicht nur Jegge gewähren. «Die Muster sind immer dieselben», sagt Miller, der mit Oelkers bereits die Odenwaldschule untersuchte, in der es ebenfalls zu systematischem sexuellen Missbrauch gekommen war. Übergriffe passierten stets in Institutionen mit charismatischen Führungspersönlichkeiten, bei denen man es nicht wage, genau hinzuschauen.
Die Karriere, die mit einem Buch begann, endete ebenfalls mit einem Buch. Jegges Schüler Markus Zangger machte 2017 «Jürg Jegges dunkle Seite» publik. Diese Woche durfte Zangger an der Medienkonferenz der Zürcher Bildungsdirektion auftreten. Er beklagte sich dabei über das mangelnde Interesse von Pädagogen an seinem Buch. Dies schliesst er aus seinen Verkaufszahlen. Sein Erfahrungsbericht wurde hundert Mal weniger verkauft als Jegges Werk. Zangger setzte nur 2000 Stück ab.
Nun folgt quasi der letzte Teil einer Trilogie; wie Jegges Werk ebenfalls im Zytglogge-Verlag. An den Erfolg des Bestsellers dürfte die pädagogische Aufarbeitung aber ebenfalls nicht anknüpfen können. (aargauerzeitung.ch)