Schweiz
Zürich

Enteignet: Die Nagelhaus-Bewohner verlassen ihr Zuhause

Das Ende des Nagelhauses: Wie gestern ein Stück Zürcher Stadtgeschichte zu Grabe getragen wurde

Die Bewohner des weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannten Nagelhauses im Zürcher Kreis 5 sind ausgezogen. Zurück bleiben leere Räume, enttäuschte Menschen und die ernüchternde Tatsache, dass das charakteristische Häuschen trotz erbittertem Kampf einer Strasse weichen muss. Reportage eines traurigen Tages Zürcher Stadtgeschichte.
01.07.2016, 09:1603.07.2016, 04:24
Daria Wild
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Ein letztes Mal noch hatte man mit Widerstand gerechnet: Die JUSO Zürich hatte Stadtrat Wolff gestern dazu aufgefordert, die Polizei zurückzuhalten, falls es bei der Räumung des Zürcher Nagelhauses zu einem Aufstand kommen würde. Falls sich, nach jahrelangem Rechtsstreit doch noch Einzelne weigern würden, aus dem maroden Altbau an der Pfingstweidstrasse im Kreis Fünf auszuziehen. Donnerstag, 30. Juni, 12 Uhr mittags – die Frist war gesetzt.

Zwei Stunden vor dem Auszugstermin weht kein Hauch von Widerstand. Geschäftsleute hetzen durch den Nieselregen, Lieferanten kurven ums Häuschen herum, die vier Security-Mitarbeiter, die die Räumung überwachen, trinken Kaffee aus Kartonbechern. «Alles läuft prima», sagen sie und nicken. «Nette Bewohner!». Was sie davon halten, dass dieses Haus wegmuss? «Sagen wir nicht. Wir machen hier nur unseren Job.»

Eine Security-Mitarbeiterin vor dem Nagelhaus. Die Absperrgitter stehen bereit.
Eine Security-Mitarbeiterin vor dem Nagelhaus. Die Absperrgitter stehen bereit.
bild: watson

Immer wieder tauchen die letzten Bewohner aus dem Nagelhaus auf, mal ein Bild in der Hand, «Ins Auto? Auf den Müllhaufen.», mal einen Koffer hinter sich her ziehend, die Köpfe gesenkt, die Mienen finster. «Es wird hässlich aussehen hier. So wie überall. ‹Gentrifiggi› halt», sagt einer, schnippt die Zigarette in den Garten und hievt eine Kommode in den Truck. Reden will er nicht mehr darüber, über den Knatsch mit den Behörden, den Kampf bis vor Bundesgericht, die verlorene Hoffnung. «Wir ziehen jetzt einfach aus.»

Mit dem Auszug aus dem markanten Altbau aus dem Jahr 1893 verschwindet das Pièce de Résistance aus dem Zürcher Trendquartier. Das Haus steht der geplanten neuen Zufahrt zum Maag-Areal im Weg, die man mit etwas Flexibilität und Sinn für bauliche Diversität auch um das Gebäude herum hätte leiten können. Elf Jahre lang wehrten sich die Bewohner gegen die Baupläne. Vergeblich. Sie scheiterten samt alternativem Bauplan des berühmtesten «Nagelhäuslers», Willy Horber, am Bundesgericht.

Alles muss raus: Das Nagelhaus wird geräumt.
Alles muss raus: Das Nagelhaus wird geräumt.
bild: watson

750 Franken für drei Zimmer

Rund um das Nagelhaus hat die Stadt Neubauten hingepflanzt, das Renaissance-Hotel, das Geschäftshaus 51, Wohnhäuser mit teuren Apartments, leeren Balkonen und wenig Charme. Inmitten dieser modernen Häuserfratzen wirkt der Altbau klein und schwach. Im untersten Stock ist eine Scheibe eingeschlagen, die Häuserkanten bröckeln. Ein Teil des Gebäudes wurde bereits vor Jahren abgerissen, seither stützt eine mächtige Stahlkonstruktion die fensterlose Wand, die den Schriftzug «La Résistance» trägt.

«Ich mochte die Surrealität dieses Quartiers», sagt Florian Leu, der zweieinhalb Jahre hier lebte. «Der Moment, wenn man nach dem Gang durch die Betonwüste unser kleines Vogelhäuschen erblickt.» Schön sei's gewesen, aber jetzt komme halt etwas Neues, sagt Leu. Die Nagelhäusler, die noch nicht so lange da sind, wussten um die Geschichte, um die wacklige Zukunft ihres Zuhauses. Schwieriger ist der Auszug für jene, die längere Zeit hier lebten.

Das Nagelhaus neben dem Renaissance-Hotel und dem «51»-Bürogebäude.
Das Nagelhaus neben dem Renaissance-Hotel und dem «51»-Bürogebäude.bild: watson

Thomas Baumann ist sofort anzumerken, dass er seit Jahren wütend ist. Wütend auf die Stadt, die ihm nach 13 Jahren das Dach über dem Kopf nahm. Wütend, weil die städtischen Behörden vor dem Kanton kuschten. Wütend, weil sie auf Vorrat Baulinien bewilligten, die keinen Sinn machten. «Die haben gezielt so geplant, dass sie den sogenannten Schandfleck wegräumen können», sagt Baumann.

Pünktlich geräumt

Machte denn das Leben im Nagelhaus überhaupt noch Sinn, so zwischen lärmigen Baustellen und hässlichen Bürowürfeln? «750 Franken für drei Zimmer, wo kriege ich das denn?», fragt Baumann zurück und erzählt von seiner Badewanne in der Küche. «Du badest am Morgen, nebenan brutzelt das Frühstück auf dem Herd. Das werde ich vermissen.» Baumann schultert seinen Reiserucksack und greift nach zwei mit Büchern gefüllten Tragtaschen. «Ich werde jetzt zum Couchsurfer», sagt er. Sein Nachbar lehnt aus dem Fenster und klopft zum letzten Mal die Bialetti-Kaffeemaschine in den Garten aus.

Kurz vor 12 Uhr ist die Räumung fertig. Traurig stehen sie zusammen im Garten, die Nagelhäusler, der Pöstler bringt Post, «zum letzten Mal, hä?!», der von der Stadt enteignete Besitzer, der ebenfalls bis vor Kurzem im Haus gelebt hat, schüttelt allen die Hand und nimmt die Schlüssel entgegen. Die JUSO sind doch noch gekommen, sie hängen ein Transparent in den Garten und stehen verlegen neben dem Haus. «Achtung Gefahr, hier wird gentrifiziert.»

In wenigen Tagen werden Spezialisten der Stadt das asbesthaltige Haus sanieren, damit es abgerissen werden kann. Dann verschwindet der Schandfleck, ein Symbol des Widerstands, das Zuhause von 14 Menschen. Das Trüppchen im Garten löst sich auf, der Besitzer dreht eine letzte Runde, zwei Bewohner lenken ihren Truck aus der Einfahrt und steuern hupend davon. 

Auf der Strasse vor dem Haus hämmern Bauarbeiter mit ohrenbetäubendem Lärm ein Loch in den Teer.

Der Track zum Nagelhaus: Kollektiv Bauknecht – «Hotel Résistance»

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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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blabla..
01.07.2016 09:26registriert Mai 2015
Hier wurde tatsächlich eine Enteignung durchgeführt, der Aufschrei der SVP als selbsternannte Hüterin des Eigentums bleibt aus. Was sagt uns das?
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Hattori_Hanzo
01.07.2016 12:03registriert März 2015
Ich lief im letzten Jahr ptaktisch jeden Tag am Haus vorbei um vom Bhf Hardbrücke zum Technopark zu gelangen. Ich finde das Haus sah, gerade weil es von Neubauten umringt ist, interessant, kurrlig, witzig und schön aus. Schade muss es einer Strasse Platz machen, Vielfallt geht so verloren. Ich werde es vermissen.
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Sososo
01.07.2016 11:59registriert Juli 2016
Dass die Strasse als Grund für den Abriss vorgeschoben wird ist ein schlechter Witz. Hatte auch das Bundesverwaltungsgericht so entschieden. Selbst die Volkswirtschaftsdirektion war ehrlich genug, den Gang zum Bundesgericht nur noch mit dem "Städtebau"-Argument zu rechtfertigen. Das Nagelhaus passt halt nicht ins Bild. Dass der Steuerexperte aus dem Prime Tower, der am Vormittag noch Steuergelder aus Drittweltländern in Steueroasen verschiebt einen Block weiter in der zurechtdrappierten Container-Favela ein Premium Fair-Trade-Menü zum Zmittag essen kann, scheint hingegen ins Konzept zu passen.
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