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«Sie haben Angst, sich zu wehren»: Prekäre Wohnsituation von Flüchtlingen in der Schweiz treibt Schulpräsident die Tränen in die Augen

In dieser baufälligen Liegenschaft an der Bucheggstrasse leben Flüchtlinge auf engstem Raum.
In dieser baufälligen Liegenschaft an der Bucheggstrasse leben Flüchtlinge auf engstem Raum.screenshot: Google Street view

«Sie haben Angst, sich zu wehren»: Prekäre Wohnsituation von Flüchtlingen in der Schweiz treibt Schulpräsident die Tränen in die Augen

In einer Liegenschaft in Zürich leben Flüchtlinge unter widrigsten Bedingungen. Besonders die Kinder leiden darunter. Urs Berger, Schulpräsident der Kreisschulpflege Waidberg, erlebt diese Kinder täglich und kennt deren Wohnsituation. Es macht ihn wütend.
26.05.2015, 20:1126.05.2015, 21:10
Daria Wild
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Urs Tschenett vermietet Flüchtlingen Wohnungen in baufälligem Zustand. Damit verdient er jährlich eine halbe Million Franken, wie der «Tages-Anzeiger» am Dienstag berichtet – auf Kosten der Steuerzahler und zum Leidwesen der Flüchtlinge. Finanziert werden die Mieten von der städtischen Asylhilfe AOZ.

Urs Berger, Schulpräsident der Kreisschulpflege Waidberg, kennt die Liegenschaft an der Bucheggstrasse. Er hat eine Flüchtlingsfamilie Zuhause besucht und erlebt im Schulalltag immer wieder, wie die Kinder unter den Umständen leiden.

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Urs Berger, Sie haben eine Familie an der Bucheggstrasse besucht. Was haben Sie erlebt?
Die Familie, deren zwei Kinder bei uns in der Schule sind, hat mir die Wohnung gezeigt. Ich war schockiert: In den 5-Zimmer-Wohnungen leben bis zu fünf Parteien zusammen. Ein Zimmer, das sich mehrere Personen teilen, kostet monatlich 1400 Franken. Eine 2-Zimmer-Wohnung ist 40 Quadratmeter gross und kostet 1800 Franken pro Monat. Vier Personen teilen sich den knappen Raum. 

Wussten Sie im Vornherein um die Zustände?
Wir haben immer wieder Kinder, die in einfachen Häusern oder Abbruchliegenschaften leben. Was ich da aber gesehen habe, war eine Kumulation all dessen, was ich vorher schon gewusst und gehört habe. Die Zimmer sind feucht, stickig, klein und eng. Die Luft war schlecht. Ausserdem ist es dort extrem lärmig. In der Schule erzählen die Kinder, sie hätten Angst, aufs WC zu gehen. 

Urs Berger ist seit 14 Jahren Präsident der Kreisschulpflege Waidberg
Urs Berger ist seit 14 Jahren Präsident der Kreisschulpflege Waidbergbild: zvg

Warum wehren sich die Flüchtlinge nicht?
Diese Familien sind extrem froh, dass sie überhaupt ein Dach über dem Kopf haben. Sie sehen ihre Handlungsmöglichkeiten nicht und kennen ihre Rechte nicht. Jeder andere Mensch würde sich in so einer Situation natürlich wehren. Doch diese Leute sind ganz am Boden angekommen und haben dazu kaum die Kraft. Ausserdem wollen sie unter keinen Umständen negativ auffallen. Sie haben Angst, diese Behausung zu verlieren, Angst, im Asylantragsprozess Probleme zu kriegen. 

Wie geraten sie überhaupt an solche Bruchbuden?
Von der Familie, die ich besucht habe, weiss ich es nicht. Von Gesprächen mit anderen Lehrpersonen weiss ich aber: Die Flüchtlinge helfen und organisieren sich untereinander. Sie pflegen den Kontakt zu Landsleuten und erhalten wohl so solche «Empfehlungen». 

Kennen Sie den Vermieter?
So viel ich weiss, ist der Vermieter, Urs Tschenett, gar nie vor Ort, sondern regelt alles über einen Verwalter. Vermutlich möchte er gar nicht sehen, welcher Wohnsituation er die Flüchtlinge aussetzt. Sonst müsste er doch wenigstens die elementarsten Regeln von Anstand und Menschlichkeit wahren. Aber er weiss wohl nur zu gut, dass das alles eine Gelegenheit ist, mit wenig Aufwand viel Geld zu machen.

Dieses Geld kommt von der städtischen AOZ.
Ja. Dass es überhaupt möglich ist, so viele Leute auf so engem Raum einzupferchen, ist das eine. Dass die AOZ da auch noch die Mieten dafür bezahlt und via öffentlicher Gelder schamlose Vermieter unterstützt, ist besonders stossend. 

«In so einer Situation unterschreiben die Flüchtlinge einfach jeden Vertrag.»

Die AOZ sagt, die Flüchtlinge würden die Mietverträge selbständig abschliessen... 
Weil sie keine Alternative haben! In so einer Situation unterschreiben sie einfach jeden Vertrag. Ich frage mich allerdings, ob es die Stadt, die ja genug Liegenschaften besitzt, nicht günstiger zu stehen käme, wenn sie selber Wohnungen an Flüchtlinge vermieten würde, anstatt dies über die AOZ und Sozialhilfe-Beiträge zu lösen. Dann könnte auch die Durchmischung einzelner Siedlungen besser gesteuert werden. Das wäre der Integration dienlicher, als wenn alle Flüchtlinge an der Westtangente leben. Aber das ist wohl eine Kapazitätsfrage. Die AOZ ist bereits mehr als genug mit der Unterbringung von Menschen beschäftigt, die gerade in der Schweiz angekommen sind. Man müsste ihr mehr Mittel verschaffen, um die Situation der Flüchtlinge zu verbessern.

Warum schreitet die Schule in solchen Fällen nicht ein?
Es macht mich wütend, wenn ich erlebe, dass Leute aus der Not dieser Menschen Kapital schlagen. Etwas dagegen zu tun, ist aber auch für mich enorm schwierig. Die Familie, die ich besucht habe, will nicht aus dieser Wohnung – es ist in ihren Augen besser als nichts. Deshalb suchen auch sie keine Hilfe beim Mieterverband. Die einzige Anlaufstelle ist die AOZ.

«Diese Kinder wünschen sich ein möglichst normales Leben.»

Wie bedeutet die Wohnsituation dieser Kinder für den Schulalltag?
Sie haben keinen Rückzugsort, keinen ruhigen Platz, um Hausaufgaben zu lösen. Also schauen wir, dass sie möglichst lange im Hort bleiben können, wo sie Ufzgi erledigen und mit anderen Kindern spielen. Viele sind in schulpsychologischer Beratung oder in einer externen psychologischen Therapie. 

Erzählen die Kinder von der Flucht?
Wir versuchen den Kindern zu vermitteln, dass sie Schüler sind wie alle anderen auch. Das wünschen sie sich ja auch – ein möglichst normales Leben. Deshalb bohren wir nicht nach. Aber wir haben zum Beispiel ein Malatelier. Dort erzählen sie manchmal. So kommen Bruchstücke ihrer Lebensgeschichte ans Licht. Ihre Vergangenheit nagt an ihnen, ausserdem vermissen sie ihr Zuhause, ihre Angehörigen. Es ist etwas vom Schlimmsten, wenn Menschen nicht dort leben können, wo sie eigentlich wollen. 

Wie ist das für die Lehrer?
Es ist eine grosse Herausforderung. Ich bin seit 14 Jahren Schulpräsident – einfacher ist es nicht geworden in dieser Zeit. Einerseits ist da die Sprachbarriere, andererseits müssen sich auch viele Kinder überhaupt zuerst daran gewöhnen, wie man hier lebt. Früher kamen vor allem Flüchtlinge aus dem Balkan, aus dem Kosovo. Diese Menschen sind unserer Kultur näher als Somalier oder Eritreer. Hinzu kommen die schwierigen Schicksale, die wir jeden Tag miterleben. Das nagt schon an einem.

Die lärmige Zürcher Bucheggstrasse
Die lärmige Zürcher BucheggstrasseBild: KEYSTONE
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