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«Der Strassenstrich am Sihlquai war gefährlicher, aber besser»

Ein Bild aus alten Tagen: Am Sihlquai bieten sich Prostituierte an.
Ein Bild aus alten Tagen: Am Sihlquai bieten sich Prostituierte an.Bild: KEYSTONE
SRF DOK zieht Bilanz

«Der Strassenstrich am Sihlquai war gefährlicher, aber besser»

Seit Herbst 2013 stehen in Altstetten die Sexboxen, in denen die Prostituierten ihrem Gewerbe in Sicherheit und fernab von der Öffentlichkeit nachgehen sollen. Ob sich das für die Prostituierten in Zürich ausbezahlt hat, zieht ein Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens in Zweifel.
16.01.2015, 02:5916.01.2015, 08:42
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Der Strassenstrich am Zürcher Sihlquai ist verschwunden, doch weg sind die Prostituierten nicht. Sie sind nur aus dem Blickfeld gerückt. Aus den Augen, aus dem Sinn. So lautet der Titel und die These von Béla Batthyanys Film, der am Donnerstagabend in der SRF DOK-Reihe im Schweizer Fernsehen lief.

Im Film kommen Prostituierte zu Wort, und sie klagen: Da ist einmal das Geschäft, das bei den sogenannten Verrichtungsboxen schlechter läuft. «Es läuft sehr schlecht, es läuft nichts», sagte eine Prostituierte, Norma T.. Es kämen zu wenige Freier. Es gebe Nächte ohne einen einzigen Kunden. Auch die Stadt bestätigt den Umsatzrückgang in ihrer ansonsten durch und durch positiven Bilanz.

Die Folge sind purzelnde Preise. Einige böten den «vollen Service» für 30 bis 40 Franken, auch ohne Gummi, erzählt die Frau. In den letzten Jahren sei der Verdienst bei 80 bis 100 Franken pro Freier gelegen, manchmal sogar bei 150 Franken. Für sie ist die Bilanz klar: Das Sihlquai war besser, auch wenn es gefährlicher war. «Wir haben besser verdient.»

Wartehäuschen beim neuen Strichplatz in Altstetten. Prostituierte klagen, dass das Geschäft schlecht läuft, die Preise purzeln.
Wartehäuschen beim neuen Strichplatz in Altstetten. Prostituierte klagen, dass das Geschäft schlecht läuft, die Preise purzeln.Bild: KEYSTONE

Existenzen stehen auf dem Spiel

Weitere Klagen betreffen das harte Vorgehen der Polizei am Sihlquai, wo als Folge der verschärften Prostitutionsgewerbeverordnung Frauen gebüsst werden, die Freier anwerben und Sexsalons es schwer haben, die höheren Auflagen zu erfüllen.

«Der Druck auf die Frauen ist extrem gross», sagte Cornelia Zürrer. «Die Polizei ist extrem am Kontrollieren. Ständig. Ständig.» Zürrer betreut Prostituierte auf der Strasse im Rahmen eines Heilsarmee-Programms - seit 18 Jahren.

In dieser Zeit habe sie eine solche Situation noch nie erlebt, sagte sie. «Viele Existenzen sind bedroht». Frauen, die ihr Zimmer verlieren, Bussen und Wegweisungen erhalten, wüssten nicht mehr, was sie tun sollen. Sie stünden vor dem Nichts.

Es sei die zentrale Aufgabe der Polizei, den Strassenstrich nicht mehr aufflammen zu lassen, sagte Marco Cortesi, Sprecher des Polizeidepartements der Stadt Zürich. Dazu seien Patrouillen in Uniform und in Zivil unterwegs. 

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Nach Basel abgewandert

Eine brasilianische Prostituierte, Maria D., kritisiert die Kontrollen in den Sexsalons. Die Kunden kämen nicht mehr, wenn sie mit Kontrollen rechnen müssten. Maria D. arbeitet nun in Basel. Dazu habe ihr sogar ein Polizeibeamter geraten. Nun verdiene sie zwar weniger, aber man lasse sie in Ruhe, sagte sie.

Dass die Stadt angesichts der Zustände mit Lärm und Dreck beim Strassenstrich am Sihlquai eingreifen musste, bezweifelt niemand im Film. Doch es wird Kritik laut an der Lösung, die die Stadt gewählt hat. 

Die Stadt habe die Realität der Frauen am Sihlquai nicht verstanden, sagte Maria D. Die Behörden hätten etwas Gutes tun wollen, fügte Zürrer von der Heilsarmee an. Dafür sei jetzt aber die ganze Problematik um die Prostituierten aus dem Fokus gerückt.

«Das Elend ist jetzt nicht mehr so sichtbar, und darum interessiert es auch nicht mehr.»

Was mit den Frauen passiert ist, sei nicht mehr im Blickfeld.

Eine Barbesitzerin berichtet, dass wegen des geringeren Verdiensts der Sexarbeiterinnen und -arbeiter auch andere Geschäfte im Viertel weniger Umsatz machten. Dafür sei die Gentrifizierung des Quartiers fortgeschritten, fügt die Stimme im Off an.

Das schreibt Filmer Béla Batthyany:
«Die Dreharbeiten für diesen Film waren heikel. Noch immer ist das Thema Prostitution stark tabuisiert in unserer Gesellschaft, und die Angst der Sexarbeiterinnen, von Freunden, Familienmitgliedern, der eigenen Mutter oder den Kindern erkannt zu werden, ist riesig.

Dabei könnten eigentlich viele Sexarbeiterinnen stolz drauf sein, dass sie ihre Familie im Heimatland ernähren können, dass sie ihren Kindern eine Schulausbildung oder der kranken Mutter eine ärztliche Behandlung ermöglichen. Stattdessen sind sie gezwungen zu lügen, zu vertuschen und zu verheimlichen, womit sie ihr Geld verdienen.»
quelle: srf.ch

Weniger Sexarbeiterinnen? Man weiss es nicht

Mehrmals versucht der Dokumentarfilmer zu beleuchten, ob denn nun weniger Frauen aus dem Ausland nach Zürich kommen, um anzuschaffen. Die Befragten aus dem Milieu gehen alle davon aus, dass es nach wie vor gleich viele sind, sie nur nicht gleich sichtbar sind. 

Belastbare Zahlen liefert der Film keine, es gibt sie wohl auch nicht. Reto Casanova, Sprecher der Zürcher Stadtpolizei, sagt dagegen, es gebe weniger Frauen am Sihlquai. «Wohin sie gegangen sind, wissen wir nicht.» Die Vermutung laute, dass sie ins Ausland abgewandert seien.

Ein grosser Teil des Filmes widmet sich einer Strassenprostituierten aus Budapest, Anikò M., die am Sihlquai gearbeitet hat. Der intensive Blick auf die 23-Jährige zeigt vor allem eines: Dass junge Roma-Frauen wie Anikò mit ihrem Verdienst aus der Prostitution in der Schweiz eine ganze Familie ernähren - und dass sie keinen Ausweg sehen, dieses Geld auf anderem Weg zu verdienen. Wenn man diese Armut sehe, verstehe man, warum die Frauen immer wieder zurückkehrten, sagte Zürrer. (trs)

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