Alfred Naef (70), Pensionär aus Wädenswil ZH, hat den Hass seiner Gemeinde auf sich gezogen. Er ist der Mann, der die Kirchen nachts zum Verstummen bringen will. In der Bäckerei neben der Kirche lästert man über ihn.
Typisch Zuzüger, schnödet eine Frau. Drastisch formuliert es ein anonymer Briefschreiber, der sich als «alter Wädenswiler Bürger» vorstellt. «An den ins Dorf zugezogenen Schänder einer uralten kirchlichen Tradition», beginnt er: «Herr Naef, ich muss es vor Weihnachten noch loswerden.
Warum sind Sie nicht dort geblieben, wo Sie hergekommen sind? Oder haben Sie dort die Kuhglocken und die singenden Vögel gestört?» In einem zweiten Brief doppelt der anonyme Schreiber nach: «Herr Naef, ich habe ganz vergessen, Ihnen eine Schlaftablette zu übermitteln. Wenn Sie zu viel nehmen, haben wir Ruhe vor Ihnen.»
So weit kann es kommen, wenn man sich mit einer mächtigen Institution anlegt, der Kirche. Morgen Mittwoch steht Naef nicht nur im Fokus seiner Gemeinde. Das Bundesgericht in Lausanne entscheidet über seinen Fall. Und das höchste Gericht weist diesem höchste Bedeutung zu: Es hat eine seiner seltenen öffentlichen Verhandlungen einberufen. Naef gerät in eine Rolle, die er nicht gesucht hat. Denn eigentlich will er nur eines: seine Ruhe.
Die Balkontür lässt Naef während des Gesprächs in seiner Wohnung angelehnt. Wäre sie geschlossen, würde man die 195 Meter entfernten Kirchenglocken kaum hören. Naef will mit dem Türspalt demonstrieren, wie laut das Bimmeln ist, wenn er und seine Frau im Sommer bei gekipptem Fenster schlafen wollen.
Ein Umwelttechnikbüro hat die Situation mit Mikrofonen untersucht. Durch das offene Fenster treffen die Glockenschläge mit einer Lautstärke von 55 Dezibel auf das Bett. Bei gekipptem Fenster sind es 43 Dezibel. Das ist kein hoher Wert; eine ratternde Nähmaschine ist lauter. Doch die Lautstärke genügt, dass einige Menschen aufwachen oder in eine weniger tiefe Schlafphase kippen.
Naefs Frau leidet an einer seltenen Parkinson-ähnlichen Krankheit und wurde vom Direktor der Klinik für Neurologie des Zürcher Universitätsspitals untersucht. In einem Arztzeugnis schreibt dieser: «Frau Naef wird in der Nacht durch die Kirchenglocken regelmässig am Einschlafen gehindert bzw. wieder aus dem Schlaf gerissen. Aus medizinischer Sicht sollten diese nächtlichen Schallereignisse möglichst vermieden werden.»
Als das Ehepaar 2014 vom Stadtrand ins Zentrum zog, um besser mit der Krankheit umgehen zu können, bedachte es nicht, dass hier nur die katholische Kirche nachts schweigt. Im Turm der reformierten Kirche schlägt ein Hammer zur vollen Stunde ein- bis zwölfmal auf die Glocke 1. Die Zahl der Viertelstunden wird mit Hammerschlägen auf die Glocken 4 und 5 angezeigt. Ding-Dong.
Diesen Viertelstundenschlag beurteilen morgen fünf Bundesrichter. Naef hat mit einer Lärmklage erreicht, dass das Zürcher Baurekursgericht einen Kompromiss gesprochen hat. Es entschied Folgendes: Die Kirche dürfe nachts weiterhin zur vollen Stunde schlagen, aber den Viertelstundenschlag müsse sie von 22 bis 7 Uhr abschalten. Das Verwaltungsgericht hiess die Lösung gut, doch die Kirchgemeinde und die Stadt akzeptierten sie nicht und zogen den Fall weiter ans Bundesgericht.
Die Kirche riskiert viel: Verliert sie, können Lärmgegner in anderen Gemeinden ebenfalls mit einer Klage nächtliche Glockenschläge zum Verstummen bringen.
Früher war es tabu, Kirchengeläut als Lärm zu bezeichnen. Seit dem Jahr 2000 sind schweizweit allerdings bereits in 500 Kirchgemeinden Lärmklagen eingegangen. Zur Klagewelle beigetragen hat die 2004 gegründete IG Stiller mit ihrer umtriebigen Sprecherin Nancy Holten. Sie hat den früher im Stillen agierenden Lärmgegnern eine lautstarke Stimme verliehen.
Bisher hat das Bundesgericht stets für die Kirchen und gegen die Nachtruhe entschieden. Die Gerichte stützten sich auf die Annahme, der Schlaf werde erst ab einem Pegel von 60 Dezibel beeinflusst. Die Ausgangslage für den morgigen Entscheid ist jedoch eine andere, weil inzwischen die Wissenschaft Partei für die Glockengegner ergriffen hat. Eine ETH-Studie von 2011 legt den Grenzwert neu bei 40 Dezibel fest.
Die ETH-Forscher hatten Mikrofone in Schlafzimmern im Kanton Zürich installiert und 27 Testpersonen verkabelt, die bei gekipptem Fenster in der Nähe einer Kirche schliefen. Das Resultat: Glockengeräusche über 40 Dezibel führen zu sogenannten Aufwachreaktionen. Diese werden von den Schlafenden in der Regel nicht bemerkt. Natürlicherweise wacht man zwanzig- bis dreissigmal pro Nacht auf, ohne es bewusst wahrzunehmen. Passiert dies aber zu häufig, kommt die Erholung zu kurz.
Die ETH-Forscher stellen fest, dass die Aufwachreaktionen schon mit geringen Reduktionen vermieden werden können. Darauf stützen sich die Zürcher Richter bei ihrem salomonischen Urteil, die Stundenschläge zu tolerieren, aber das Viertelstundengebimmel zu verbieten. Die Kantonsrichter schlagen dem Bundesgericht vor, wegen der ETH-Studie die Rechtsprechung zu korrigieren.
Damit steht nun auch die Wissenschaft vor Gericht. Die Bundesrichter werden unter anderem zu beurteilen haben, ob eine Studie mit 27 Testpersonen repräsentativ ist. Die Rolle der Wissenschaft im Wädenswiler Kirchenstreit beschäftigt nicht nur die höchsten Richter, sondern auch höchste SVP-Politiker. Parteipräsident Albert Rösti sieht in der ETH-Studie den wissenschaftlich untermauerten «Zerfall unserer Werte», der von «hochdekorierten Persönlichkeiten unseres Landes» vorangetrieben werde, wie er an einer Delegiertenversammlung bekannt gegeben hat.
Die Rolle des Verteidigers der schweizerischen Werte übernimmt im Glockenstreit Peter Meier, Präsident der evangelisch-reformierten Kirche von Wädenswil. Er hat beim Meinungsforschungsinstitut Opinion-Plus eine repräsentative Telefonumfrage bestellt, deren Resultate er auf Anfrage erstmals bekannt gibt. Auf die Frage, ob man sich durch den Viertelstundenschlag gestört fühle, antworteten 93 Prozent der Wädenswiler Wohnbevölkerung mit «überhaupt nicht» und 4 Prozent mit «eher weniger». Nur 3 Prozent bejahten eine Störung.
Kirchenpräsident Meier fragt: «Dürfen Einzelne die Mehrheit überstimmen?» Die Antwort liefert er gleich selber: «Ich finde das problematisch.» Er sieht nichts weniger als die Demokratie in Gefahr: «Das Bundesgericht muss nun entscheiden, ob es für oder gegen die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung von Wädenswil ist.»
Die Stimmung im Städtchen habe Meier gespürt, als die Kirchgemeinde als Reaktion auf die Lärmklage das Frühgeläut von sechs auf sieben Uhr verschoben habe: «Schon wegen dieser kleinen Änderung wurde ich im Dorf fast geteert und gefedert. Für einige Leute geht ein Teil ihres Heimatgefühls und ihres gewohnten Tagesablaufs verloren.»
Naef steht vor seiner angelehnten Balkontür und blickt zur Kirche. Es sei eine «unheilige Allianz» von Kirche und Politik, die für den «absolut sinnlosen Lärm» kämpfe. Zu den Diffamierungen im Quartier sagt er: «Ich zahle länger hier Steuern als viele, die mich angefeindet haben.» Einwohner von Wädenswil ist er seit Jahrzehnten, nur in Kirchennähe wohnt er erst seit kurzem.
Doch ist Naef nicht ebenfalls einer, der mit missionarischem Eifer für seine Sache kämpft? Er entgegnet: «Ich tue alles, damit es meiner Frau besser geht.» Er fragt: «Muss eine Mehrheit von einer Gesundheitsschädigung betroffen sein, damit man Rücksicht nimmt?» Vor Gericht sollte der Grundsatz «im Zweifel für die Kranken» gelten, findet er. Während der Kirchenpräsident morgen nach Lausanne reist, bleibt Naef zu Hause. Er kümmert sich um seine Frau.