Essena O'Neil hatte Hunderttausende Follower auf Instagram, Snapchat und YouTube – dann beschloss sie von einem auf den anderen Tag, sich vom ganzen Zirkus zu verabschieden. Woher dieser Wandel?
Wampfler: Sie hatte wohl tatsächlich genug vom unablässigen Streben nach Aufmerksamkeit. Damit ist sie sicher nicht alleine. Was ich hingegen etwas befremdlich finde, ist, wie sie ihren Abschied inszeniert hat.
Hätte sie besser einfach abtreten sollen, kein Wort des Abschieds, keine pathetischen Gesten?
Ja, aber das wäre ihr wahrscheinlich schwer gefallen. Wer einmal dieses Level erreicht hat, der kann nicht einfach so mir nichts dir nichts das Licht ausmachen und den Raum verlassen. Da geht etwas verloren, was den Lebensinhalt ausmacht. Vor allem, wenn man keine grossen Bindungen ausserhalb von Social Media mehr pflegt.
O'Neill will eine Vorbildfigur für andere Mädchen sein. Ihr Abschied von der «oberflächlichen Social-Media-Welt» soll andere dazu inspirieren, es ihr gleich zu tun. Gelingt das?
Zuerst einmal: Ich glaube tatsächlich, dass einige junge Leute an diesem System verzweifeln. Sich dauern präsentieren zu müssen und auf positive Rückmeldungen zu hoffen – das kann zu einer Sucht werden. Im Grossen wie bei Essena O'Neill oder im Kleinen wie bei Schülern und Schülerinnen meiner Klasse, die sich in die Haare geraten können, weil sie finden, dass Likes unfair verteilt werden.
Also findet ihre Botschaft Zuhörer?
Ja, wenn die Jugendlichen hören, dass auch berühmte Leute Selbstzweifel haben, kann das sehr heilsam sein. Aber gleichzeitig hat ihre Botschaft auch einen sehr paradoxen Inhalt: «Hey, schaut mal, es gibt auch andere Möglichkeiten, um berühmt zu werden.»
Nach O'Neills Bekanntmachung sprachen viele von einem Social-Media-Burnout. Was ist das eigentlich?
Nun ja, vielleicht muss man etwas relativieren: Praktisch alle Jugendlichen hatten an irgendeinem Punkt mit mangelndem Selbstwertgefühl zu kämpfen. Das alleine ist keine neue Erscheinung. Teenager definieren sich seit jeher über Merkmale wie Aussehen, Kleidung, Mode, Sprache – wie Erwachsene übrigens auch – und manche haben da halt ein etwas verkrampftes Verhältnis.
Aber Social Media verändert das Erwachsenwerden doch, oder?
Natürlich, nur wirkt es in diesem Punkt eher wie ein Katalysator. Alles funktioniert schneller, unmittelbarer. Wenn man heute einen Instagram-Account hat und einen Monat lang nichts postet, muss man sich rechtfertigen. Das war früher anders.
Wann wird es von einem normalen Adoleszenz-Problem zu einer regelrechten Abhängigkeit?
Dann, wenn die Sehnsucht nach Aufmerksamkeit eine Eigendynamik annimmt und zum Selbstzweck wird. Man merkt dann zwar, dass es einem nicht gut tut, kann aber nichts dagegen machen. Wenn das die sozialen Beziehungen oder die eigene Leistungsfähigkeit beeinträchtigt, muss man von einer Sucht reden.
Wie sensibilisiert sind die Jugendlichen auf diese Gefahren?
Ich glaube eigentlich, sie entwickeln ganz gut eigene Strategien, um den Gefahren des Webs zu begegnen. Ein Beispiel: In der Schweiz gibt es immer weniger Jugendliche, die einen öffentlichen Instagram-Account haben. Die meisten bewegen sich innerhalb ihrer eigenen, privaten Sphäre.
Sie unterrichten selber an einer Schule. Was geben Sie Ihren Schülern und Schülerinnen in Sachen Social Media mit auf den Weg?
Ich versuche vor allem, nicht übermässig belehrend zu wirken und nicht ständig den moralischen Zeigefinger zu heben. Ausserdem finde ich es wichtig, keine Nabelschau zu betreiben: Man muss die Dinge auch mal von ausserhalb betrachten und abstrahieren. Und letztlich hilft es, mit diesen Werkzeugen zu arbeiten und zu lernen.