Den Sicherheitscheck passiert, ein letztes Mal vor den Eingangstoren anstehen, mal eben 95 Pfund für das Tagesticket abdrücken – und endlich ist es geschafft: Ich stehe auf dem Wimbledon-Gelände und halte mein Drittrunden-Tagesticket für den Centre Court, wo in wenigen Stunden Timea Bacsinszky, Novak Djokovic und Roger Federer spielen werden, in der Hand. Die Belohnung für fast 40 Stunden Anstehen.
Stück für Stück bin ich an diesem Morgen dem Ziel nochmals näher gerückt. Nachdem die Stewards um 5.30 Uhr die letzten Schlafmützen aufgeweckt haben, geht es hastig vorwärts. Schnellstmöglich packe ich meine Sachen ein, damit ich schliesslich zu den ersten glücklichen 500 gehöre, die bis zum Wimbledon-Gelände vorrücken dürfen. Dort heisst es dann wieder warten, bis um neun Uhr die Tore geöffnet werden.
There are more people in #TheQueue than Centre & No.1 Court tickets for tomorrow
— Wimbledon (@Wimbledon) 7. Juli 2017
We advise waiting until morning to queue for Ground Entry. pic.twitter.com/uWLXy59w4e
Das Schlangestehen, zu Englisch Queueing, scheint den Briten im Blut zu liegen. Bei jeder Gelegenheit werden Schlangen gebildet und das Warten wird zur Tugend gemacht. Als Paradeexemplar dafür dient die Queue, welche anlässlich des renommierten Tennisturniers von Wimbledon stattfindet. Hier wird Queueing zelebriert. Abertausende von Tennisfans reihen sich Tag für Tag im Morgengrauen ein, um eines der begehrten Tickets, welche an der Tageskasse in den Verkauf gehen, zu ergattern.
Wer es stilecht mag und eine Chance haben will, einmal einen der grossen Tennisstars aus nächster Nähe zu erleben, der verbringt mehrere Nächte campierend im Wimbledon Park. Genau diesem Ziel habe auch ich mich mit drei Kollegen verschrieben.
Beim Augenschein vor Ort präsentiert sich eine bunt durchmischte, multikulturelle und vor allem höchst friedliche Gemeinschaft. Von lauten Familien über schmusende Paare, grölende Männergruppen, stille Einzelpersonen und vife Greise ist alles vertreten. Beide Geschlechter scheinen gleichmässig verteilt. Es ist erstaunlich, wie geordnet das Ganze abläuft. Dies dank den zahlreichen freiwilligen Stewards, welche wie fleissige Bienen mit Rat und Tat zur Seite stehen.
Bestimmt, aber freundlich und immer mit einem ironischen Unterton, welcher den schwarzen britischen Humor durchdringen lässt, sorgen sie dafür, dass ihren Anweisungen Folge geleistet wird. Das umfassende Queue-Reglementarium wird aber, zumindest nach meiner Erfahrung, locker gehandhabt. Auch die Nachtruhe um 22 Uhr ist mehr Empfehlung denn Gesetz.
Ein zentraler Grund für den geordneten Ablauf bildet das Card-System, welches vor einigen Jahren, als der Ansturm immer mehr zunahm, eingeführt wurde. Jeder Queue-Teilnehmer erhält, sobald er sich in die Schlange stellt, eine Karte mit der Nummer, an welcher Position er sich befindet. So kann sich jedermann orientieren, was noch bevorsteht.
Das Ziel ist, es unter die ersten 500 in der Queue zu schaffen, welche Vorwahlrecht bezüglich der Court-Wahl haben. Der Verlust der Karte bedeutet hingegen das Ausscheiden aus der Queue, womit das Projekt Wimbledon zumindest vorerst gestorben wäre. So hütet man seine Queue-Card wie einen reichen Schatz.
Schnell kommt man mit Nachbarn ins Gespräch. Bei meinen Streifzügen durch das Camp lerne ich viele Tennisverrückte kennen. So outet sich Karen Wilson schon von weitem als Fan von Roger Federer. Das RF-Logo ziert ihre gesamte Garderobe und an den Ohren trägt sie selbst gemachte Anhänger mit den Initialen ihres Lieblings. Die Schweiz-Amerikanerin ist Mitglied des Roger-Federer-Fanclubs «UnitedbyRoger».
Zweifellos verrückt ist ihr Programm, welches sie sich selbst aufbürdet. So hat sie bereits die Erst- und Zweitrundenpartien von Roger via Queueing erreicht und nun mutet sie sich erneut eine kurze Nacht zu, um auch seine Partie in der dritten Runde zu sehen: «Ich bin verrückt nach Roger», meint sie selber und verlangt von sich alles ab: Jeweils nach Spielschluss eilt sie zurück zum Zeltplatz, um neuerlich ihre Position in der Queue für den übernächsten Tag einzunehmen. Zum dritten Mal in diesem Jahr bekundet sie Glück. Mit der 488 gehört sie noch knapp zum glücklichen Halbtausend, welches das Vorrecht zur Platzwahl hat. «Ich bin das dritte Jahr hier, doch jetzt ist genug», meint sie.
Es werde immer schwieriger, reinzukommen, da die Queue immer populärer werde – «einen derart grossen Ansturm wie in diesem Jahr habe ich noch nie erlebt» –, und der ganze Stress bekomme ihr im Alter auch nicht besser, meint Karen, die anstatt ihres Alters verrät, dass sie vierfache Grossmutter sei.
Geduld beweisen müssen auch Sherry und Kathy, Austauschstudentinnen aus China. Sie geniessen das Privileg, die Pole-Position innezuhaben. Die beiden Zeltgenossinnen erzählen, dass sie am Freitag – bereits seit zwei Tagen schlangestehend – realisierten, dass es ihnen wohl nicht auf den Centre Court reichen würde. Spontan beschlossen sie, einen Tag mehr anzuhängen. Nun dürfen sie als Erste rein.
Die Zeit in der Queue hat Kathy produktiv genutzt: «Ich habe an meiner Dissertation geschrieben», berichtet die Mathematik-Doktorandin verlegen. Auch so geht Queueing. «Wir haben so etwas noch nie erlebt, es ist verrückt», meinen die beiden Asiatinnen, bevor sie ihr Zelt für die letzte Nacht vor dem grossen Tag schliessen.
In der Tat ist das tagelange Schlangestehen verrückt, doch wenn ich tags darauf in der fünften Reihe sitze, ist alle Opferbereitschaft vergessen. Es ist ein einmaliges Erlebnis – die Queue fast noch mehr als das Beiwohnen bei Federers Spiel.