Natürlich ist es einfacher, in einem starken statt in einem durchschnittlichen Team zu spielen. Shaqiri wechselte im Januar 2015 von Bayern München zu Inter Mailand und im Sommer darauf weiter zu Stoke City. Er hatte also seit fast vier Jahren nie eine starke, funktionierende Mannschaft um sich. Umso schwerer war es deshalb für ihn, regelmässig zu glänzen.
In Liverpool spielt Shaqiri jetzt in einem Team, das von hinten bis vorne mit Weltklasse-Akteuren ausgerüstet ist. Wenn Shaqiri wie gestern gegen Roter Stern einen Ball auf einen wie Mohamed Salah abtropfen lässt, zappelt das Runde anschliessend im Eckigen. Oft wurden Shaqiri bei seinen Ex-Vereinen Assists verwehrt, weil die Teamkollegen einfach zu selten gut genug waren, um die Vorlagen auch tatsächlich zu verwerten.
Spielt die Schweizer Nati schwach oder verliert sie, ist der Schuldige meist schnell gefunden: Xherdan Shaqiri. Weil er ja der Mann wäre, der halt etwas mehr könnte als die eidgenössischen Teamkollegen. Die Erwartungen an Shaqiri in der Nationalmannschaft sind so hoch, dass sie gar nicht immer erfüllt werden können. Und trotzdem zeigte Shaqiri regelmässig an grossen Turniere in wichtigen Momenten seine Klasse.
Auch in Stoke war der Fokus oft auf Shaqiri gerichtet und wenn er mal keinen guten Match einzog, wurde nicht mit Kritik gespart.
In Liverpool waren die Erwartungen schon zu Beginn viel tiefer. Logisch, für einen Spieler, der läppische 14,7 Millionen Euro kostete. Das bezahlen englische Topklubs heutzutage aus der Portokasse. Zum Vergleich: Die Teamkollegen Alisson (62,5 Mio.), Keita (60 Mio.) und Fabinho (45 Mio.) kosteten den Verein deutlich mehr. Die Erwartungen an Shaqiri waren jene an einen Ergänzungsspieler. Ein Mann eher für die Quantität als für die Qualität. Im Schatten der Superstars ist Shaqiri bei Misserfolgen nicht automatisch der Hauptschuldige – das lässt ihn befreiter aufspielen.
Mit Jürgen Klopp hat Xherdan Shaqiri den richtigen Fussball-Lehrer. Klopps offensiver, aggressiver Spielstil kommt dem Schweizer entgegen – «Kloppos» Fachkompetenz ist sowieso unumstritten.
Vor allem aber weiss Klopp, wie er mit Xherdan Shaqiri umgehen muss: mit Zuckerbrot und Peitsche. Klopp lobte Shaqiri schon nach den ersten Tagen in Liverpool öffentlich für dessen Spielverständnis.
Doch Klopp kann auch anders – so etwa nach der 1:2-Niederlage im Carabao-Cup gegen Chelsea. Da stauchte er Shaqiri nach der Partie wild gestikulierend zusammen, weil dieser in der Schlussphase einen Freistoss Henderson überlassen hatte, statt ihn selbst schnell auszuführen.
Zudem musste sich Shaqiri während des Spiels einiges vom Trainer anhören, weil er etwa das Pressing nicht forcierte oder nach einem Zweikampf einen Penalty forderte, statt Defensivarbeit zu verrichten.
Es ist genau dieser Mix aus Lob und Kritik, den Shaqiri braucht, um sein volles Potential auszuschöpfen. Während sich Shaqiri zudem langsam an die Mannschaft und den Klopp-Fussball gewöhnt, kommt er trotz grosser Konkurrenz kontinuierlich zu mehr Einsatzzeit. Und dieses Vertrauen weiss «Shaq» zurückzuzahlen.
Shaqiri ist schon lange dabei, absolvierte seine erste Champions-League-Partie vor über acht Jahren und wechselte mit 21 zu Bayern München.
Deshalb geht oft vergessen, dass Shaqiri, der mit 18 Jahren in der Nati debütiert hatte und schon 75 Länderspiele absolvierte, erst gerade 27 Jahre alt geworden ist.
Er ist im besten Fussball-Alter.
Xherdan Shaqiri wird überdurchschnittlich oft und hart kritisiert. Sei es von Fans oder Experten: Beim kleinen Schweizer sind die Ansprüche einfach höher. Gerade weil Shaqiri so viele Kritiker hat, muss es für ihn eine Extra-Motivation sein, es allen zu zeigen, die ihn immer kritisiert haben.
Dazu gehören auch die Gebrüder Gary und Phil Neville. Beides ehemalige englische Nationalspieler und heute TV-Experten.
Shaqiri ist drauf und dran, es seinen Kritikern zu zeigen. Er könnte in dieser Saison den Sprung zur Weltklasse, der ihm schon lange prophezeit wurde, endlich schaffen.