Irgendwann im ersten Satz, es ist bereits absehbar, dass Rafael Nadal (31) auf seiner Mission zum zehnten French-Open-Titel, dem ersten seit 2014, der «Decima», kaum zu bremsen sein wird, beisst Stan Wawrinka (32) aus purem Frust auf den Ball. Im zweiten Satz, in dem er besser spielt, bricht er sein Racket über das Knie. Im dritten Satz, in dem er selbst nicht mehr an eine Wende glaubt, schnellen die Mundwinkel doch noch kurz nach oben, als er einen spektakulären Ballwechsel gewinnt. Das Spiel, in französischen Medien als «letzte Schlacht» angekündigt, ist zu diesem Zeitpunkt bereits eine Demonstration.
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Rafael Nadal ist der logische und verdiente Sieger dieser «Quinzaine», der fünfzehn Tage in Roland Garros. Zum dritten Mal nach 2008 und 2010 gewinnt der Sandkönig in Paris, ohne einen Satz abzugeben.
Weil Titelverteidiger Novak Djokovic auf seiner Reise in sein Inneres erst sein Feuer und dann auch den Schlüssel zum Erfolg verloren hat, weil Andy Murray, derzeit noch die Nummer eins der Welt, in den letzten Monaten noch weniger Siege akkumulieren konnte, gilt Stan Wawrinka, der Sieger von 2015, schon früh als Einziger, der Nadals Mission in Paris ernsthaft gefährden könnte.
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Nur einmal, im Halbfinal gegen Murray, wird Wawrinka wirklich getestet. Doch gegen Nadal enttäuscht er auf der ganzen Linie. Er wird vielleicht auch das Opfer seiner Unbeständigkeit der letzten Monate und der Resultate, die nur die halbe Wahrheit erzählen. Im ersten Halbjahr bezwingt er nur einen Spieler aus den Top Ten. Die Folge sind Zweifel und Unsicherheiten.
24 Stunden vor dem Final sitzt er in einem kleinen Raum im Bauch des Court Philippe Chatrier. Gut gelaunt, zuversichtlich. Er trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift «Stan the Man». Es zeigt seine Silhouette mit bekannter Geste: dem an die rechte Stirnflanke gelegten Zeigefinger. «Es symbolisiert den Unterschied zwischen meiner ersten und meiner zweiten Karriere. Natürlich bin ich in den letzten Jahren auch physisch oder spielerisch besser geworden. Doch was sich wirklich verändert hat, ist mein Denken.»
Wawrinkas Erfolge sind Produkt seiner Beharrlichkeit, seiner Unerbittlichkeit mit sich selbst, vielleicht auch einer gewissen Sturheit. Er sagt, er habe seinen Weg nie verlassen und immer an ihn geglaubt. Seit vier Jahren arbeitet er mit Trainer Magnus Norman, noch länger mit Physiotherapeut Stéphane Falchi, Freund und Co-Trainer Yannick Fattebert und Fitnesstrainer Pierre Paganini, seit 2003 Hirn und Stratege und «wichtigste Person meiner Karriere», wie Wawrinka selber über den bescheidenen Romand sagt.
Wawrinka sagt, die ständigen Diskussionen nach den Spielen, aber auch in den Trainings auf dem Platz oder danach beim Essen hätten ihm geholfen, ein besserer Spieler zu werden. Wenn er auf dem Feld stehe, dann schalte er sein Gehirn auf Automatik um. «Ich weiss jetzt, dass ich überall und immer gewinnen kann. Ich habe grosses Vertrauen in mich und in die Arbeit, die ich in den letzten Monaten und Jahren geleistet habe.» Er wisse, wie es sich anfühle, einen Grand-Slam-Final zu spielen. Und dann nimmt er das Wort Gewohnheit in den Mund.
In der Gewohnheit, schreibt Goethe in «Wilhelm Meisters Wanderjahre», ruht das einzige Behagen des Menschen. Doch die Ambitionierten zeichnet aus, dass sie sich dauernd hinterfragen und in einem Prozess der Erneuerung befinden. Um sich zu verbessern, setzen sie sich dem Unbehagen aus. Denn die Gewohnheit nimmt dir das Lenkrad aus der Hand.
Das weiss auch Wawrinka. Eine Stunde vor dem Final macht er publik, dass er Paul Annacone in seine Entourage berufen hat. Der Amerikaner arbeitete einst mit Pete Sampras und Roger Federer zusammen.
Wawrinka sagt: «Ich brauche eine neue Vision, eine neue Sicht auf mein Spiel.» Es ist ein bewusster Bruch mit der Gewohnheit. Er soll Wawrinka dabei helfen, jenen letzten grossen Titel zu gewinnen, der ihm noch fehlt: Wimbledon. Dass kleine Veränderungen manchmal Grosses bewirken können, das beweist Rafael Nadal. Er hat im letzten Herbst Carlos Moya in sein Team aufgenommen.