Vom Pavillon Ledoyen nahe den Champs-Elysées auf die Anlage des French Open wäre es ja nur ein Katzensprung gewesen. Wie beim zweiten Grand-Slam-Turnier feierte man dort den Tennissport.
Wie in Roland Garros in feinem Zwirn, mit Häppchen, in nobler Gesellschaft und mit edlem Champagner. Doch im Gourmet-Tempel ging es nur um einen: Roger Federer (36). Sponsor «Moët & Chandon» hatte aus Anlass seines 20-jährigen Profi-Jubiläums geladen. Der Baselbieter kam in Begleitung von Frau Mirka und Mutter Lynette. Überall, wo er auftaucht, weht ein Hauch von Glamour und grosser weiter Welt.
Es mag unfair erscheinen, diese Analyse bei ihm anzufangen. Er, der zum dritten Mal in Folge in Roland Garros der grosse Abwesende ist. Hier, wo er – gemessen an seinem Palmarès – am wenigsten erfolgreich war. Aber man kann es drehen und wenden, wie man will, denn irgendwie steht alles, was in den letzten anderthalb Jahrzehnten im Schweizer Tennis passiert ist, mit ihm in Zusammenhang.
Seit jenem Tag im Juli 2003, als er in Wimbledon als erster Schweizer Mann ein Grand-Slam-Turnier gewann. Roger Federer ist seither Segen und Fluch zugleich.
Seinetwegen geht viel zu oft vergessen, dass wir nicht Jahre, sondern Jahrzehnte weit über unseren Verhältnissen gelebt haben. Angefangen bei Jakob Hlasek, der vor 30 Jahren als erster Schweizer beim Final der acht Jahresbesten teilnehmen konnte. Über Marc Rosset, der 1992 bei den Olympischen Spielen für die einzige Schweizer Einzel-Goldmedaille sorgte. Der im gleichen Jahr die Halbfinals des French Open erreichte.
Über Martina Hingis, die erste Grand-Slam-Siegerin. Die jüngste Nummer 1 der Tennis-Geschichte. Der erste Schweizer Star in einem Weltsport. Alles Biografien und Geschichten, die nun im Schatten jener von Federer stehen.
Es ist unfair. Nicht nur ihnen gegenüber, sondern auch jenen, die nun in Roland Garros spielten. Stan Wawrinka gewann drei Grand-Slam-Turniere. Er besiegte in den Finals mit Rafael Nadal und Novak Djokovic zwei die zu den Besten der Geschichte zählen.
“Fail better“ #nevergiveup #work #hardwork #believe #dedication pic.twitter.com/5mWvBn0YwN
— Stanislas Wawrinka (@stanwawrinka) 31. Mai 2018
Timea Bacsinszky überwand einst ihr Kindheitstrauma. Sie stand in Paris zwei Mal in den Halbfinals. Belinda Bencic war mit 19 bereits die Nummer 7 der Welt. Stefanie Vögele und Viktorija Golubic gehörten zu den 50 Weltbesten.
Nun fällt Wawrinka aus den Top 200 der Weltrangliste. Bacsinszky rutscht sogar aus den Top 300. Die Momentaufnahme – sie schmerzt. Erstmals seit 2013 und erst zum zweiten Mal in den letzten 15 Jahren steht bei einem Grand-Slam-Turnier weder eine Schweizerin noch ein Schweizer in der zweiten Woche.
Bei den 55 Major-Turnieren seither gab es 21 Einzel-Titel. Zum Vergleich die Zahlen ungleich grösserer Tennisnationen: USA 21, Spanien 18, Frankreich 3, Deutschland 2. Unfassbare Zahlen, die vor allem Roger Federer zuzuschreiben sind, klar. Aber es soll keiner den Fehler machen, das Schweizer Tennis auf seinen Namen zu reduzieren.
Belinda Bencic spielte gestern auf dem schmucken Platz 9, zwischen Philippe Chatrier und Suzanne Lenglen. Ihre Gegnerin war Magdalena Rybarikowa, kein grosser Name, klar, aber doch die Nummer 18 der Welt, Halbfinalistin in Wimbledon.
Auf den Tribünen ass man Hot Dogs statt Canapés. Man trank Cola statt Champagner. Das Fernsehen musste sich mit einer Kameraeinstellung begnügen. Nein, es war nicht die ganz grosse Bühne, aber es hatte durchaus seinen Charme.
Aus dem Geräuschteppich, bestehend aus Popmusik und dumpfen Bässen, stach immer mal wieder das Spiel einer Violine hervor. Man hätte das als Requiem verstehen können. Es taugt aber auch als Analogie. Ohne Federer und Wawrinka spielt das Schweizer Tennis in diesem Weltsport nur die zweite Geige.
Und wenn man ehrlich zu sich selbst ist, dann ist auch diese Zukunft eine schöne. Sie spielt in einer Atmosphäre, welche näher an dem ist, was Hunderttausende passionierte Spieler aus der Schweiz kennen. Sie riecht nach Bier, Schweiss und grillierten Würsten. Und es hat mehr Berührungspunkte mit ihrer Lebenswelt.
Rekorde, Skandale, Pokale und rührende Geschichten von Auferstehungen prägen die letzten drei Jahrzehnte im Schweizer Tennis. Ehrfürchtig, zuweilen auch neidisch verfolgt man anderswo diese Erfolgsgeschichte.
Roger Federer ist nur die Speerspitze dieser goldenen Ära. Es wäre auch ohne ihn eine. Doch es ist das Los der vom Erfolg verwöhnten, dass Realismus danach nicht mehr reicht. Viele sähen darin Tristesse. Für sie war Roland Garros ein bitterer Vorgeschmack.