Samstagabend im Staples Center in Los Angeles. Es läuft die zwölfte und letzte Runde zwischen WBC-Weltmeister Deontay Wilder und dem britischen Herausforderer Tyson Fury. Weltmeister Wilder ist verzweifelt. Ausser dem Niederschlag in der neunten Runde hat er in diesem Kampf nichts vorzuweisen. Er braucht jetzt einen Lucky Punch.
Und der Amerikaner kriegt ihn.
Für einmal findet Wilders krachende Rechte ins Ziel. Fury knickt ein. 2,06 Meter Biomasse auf dem Weg nach unten. Wilder doppelt mit einem fürchterlichen linken Haken nach, trifft den Schädel des bereits Angeknockten sauber und mit voller Wucht.
Das war's. Fury liegt regungslos wie ein Sack Kartoffeln am Boden.
Deontay Wilder gilt bereits jetzt als einer der härtesten Schläger der Boxgeschichte. 39 seiner 40 Profikämpfe endeten damit, dass sein Gegner liegen blieb. Auch der 41. Kampf scheint diesen Ausgang zu nehmen.
Was dann folgte, liess die Zuschauer und auch Weltmeister Wilder ungläubig zurück: Fury stand auf, als wäre nichts gewesen.
Es ist die wohl wundersamste Wendung im Schwergewichtsboxen des letzten Jahrzehnts. Und sie steht repräsentativ für die gesamte Gewichtsklasse. Ein Titan steht wieder auf. Und das flexibler, schneller und dynamischer, als das alle erwartet hatten.
Schwergewichtsboxen schien bereits tot. Kaputtgeschlagen von den stoischen Jabs der roboterhaften Klitschko-Brüder. Erwürgt von MMA, dem ADS-Kind der Kampfsportszene. Zermürbt von privaten Veranstaltern, denen es im Gegensatz zu den zahnlosen Rentnern in den Logen der Boxverbände gelingt, die Generation Instagram zu mobilisieren. Mayweather vs. McGregor war so ein Geschäftsevent. Ja, Geschäftsevent. Mit Sport hatte das wenig zu tun.
Doch keimt wieder Hoffnung auf für die Freunde des Schwergewichts. Verantwortlich dafür ist ein ungeschlagenes Dreigestirn: Anthony Joshua, Deontay Wilder und Tyson Fury. Der Gute, der Böse und der Hässliche.
Der Körperbau von Tyson Fury (2,06 Meter) erinnert mit den langen Extremitäten, dem fast quadratischen Oberkörper und den hochgezurrten Hosen mehr an Spongebob als an einen Spitzenathleten. Doch der strenggläubige Brite vom irischen Volk der Fahrenden verfügt über eine Kampfintelligenz wie schon lange kein Schwergewichtler mehr. Wladimir Klitschko kann ein Lied davon singen. Ihm gelangen in zwölf Runden nur gerade 52 Treffer. Das hat viel mit Furys Intelligenz zu tun. Aber auch mit seiner erstaunlichen Agilität – und den fast spastischen Kopfbewegungen. Elegant ist anders.
Nach dem Sieg gegen Klitschko 2015 ging es für Fury bergab. Depressionen und Angstzustände verunmöglichten einen Rückkampf. Seiner Krankheit begegnete Fury mit einer Unmenge von Alkohol und Kokain. Über 180 Kilo wog er in dieser Zeit. Weil er seine Pflichtverteidigungen nicht wahrnehmen konnte, wurde ihm sein Weltmeistertitel aberkannt. Ans Training dachte er nicht mehr, dafür daran, sich umzubringen.
So intelligent Fury im Ring ist, so ungelenk benimmt er sich in der Öffentlichkeit. Immer wieder vergreift er sich in Ton und Stil: Sexismus, Antisemitismus, Homophobie, Rassismus – kaum ein Fettnäpfchen, in das der Mann aus Manchester nicht tritt.
Seine Frau brauche hin und wieder Schläge, manchmal aber auch nicht, liess er verlauten. Ein weiteres Zitat gefällig: «Eine Frau ist am besten in der Küche – oder auf dem Rücken liegend. Ich bin kein Sexist. Einen guten Tee soll sie mir gefälligst machen. Das ist nur meine persönliche Meinung.»
Laut Fury müssen noch drei Dinge geschehen, bis der Teufel sein Werk vollendet habe. Nämlich die weltweite Legalisierung von Homosexualität, Pädophilie und Abtreibungen. Von Wladimir Klitschko behauptete Fury, er sei der Schwarzen Magie verfallen und bete den Teufel an.
In Modegeschmack und Auftritt wesentlich stilsicherer ist Anthony Joshua. Der Modellathlet würde auch auf dem Laufsteg eine gute Figur abgeben und ist deshalb in vielen BBC-Sendungen gern gesehener Gast. Im Ring trägt der Saubermann keine auffälligen Glitzerklamotten, sondern in der Regel edles Weiss. Weiss wie die Unschuld.
Joshua ist ein Kind von Englands Bestrebungen, bei den eigenen Olympischen Spielen in London 2012 gross aufzutrumpfen. England investierte damals Millionen in gezielte Trainingsprogramme nach den neusten wissenschaftlichen Methoden. Unweigerlich kommen die Trainingsbilder von Ivan Drago in «Rocky IV» in den Sinn.
Englands Methoden sollten fruchten. 29 Olympiasieger stellten die Briten 2012 – Joshua war einer davon. Und der Superweltmeister der WBA, IBF, IBO und der WBO spult sein Trainingsprogramm weiterhin skandalfrei ab. Dass er seit einer kleinen Twitter-Kontroverse jedes Wort auf die Goldwaage legt, tut seiner Ausstrahlung nicht nur gut. Böse Zungen behaupten, er sei – ähnlich wie Lewis Hamilton – ein Langweiler.
Noch schärfere Kritik kommt aus den Reihen der Boxpuristen. Sie verübeln es Joshua, dass er nicht alles dafür getan habe, einen Kampf gegen den gefährlichen Wilder aufzugleisen. Stattdessen habe er seinem Stammsender Showtime den Rücken gekehrt, um zum Streamingdienst DAZN zu wechseln. Dort verteidigte er dann seine Gürtel gegen Povetkin mit einem standesgemässen TKO. So richtig gefordert wurde er nicht.
So ganz anders als Joshua und Fury ist der Amerikaner Wilder. «Ich bin ein Produkt des dreckigen Südens», sagt der Mann aus Alabama von sich. Rein boxerisch kann er es nicht mit den europäischen Technikern und Taktikern aufnehmen. Das hat man auch diesen Samstag gesehen. Aber Wilder hat gegenüber den Briten einen grossen Vorteil: seine Rechte.
Gegen Fury setzte er sie zu Beginn zu oft ein: «I overshoot», gab er bei der Pressekonferenz zu. Man mag es ihm nicht verdenken, denn seine Rechte ist jederzeit fähig, einen Kampf zu beenden. Auch gegen Fury hätte es in der zwölften Runde beinahe gereicht.
«Er ist der härteste Schläger in der Geschichte des Schwergewichtsboxens», analysierte Fury nach dem Kampf die Schlagkraft seines Gegners. Das mag angesichts von Namen wie Mike Tyson, Earnie Shavers oder David Tua leicht übertrieben sein, doch 39 KO-Siege in 41 Kämpfen sprechen eine eigene Sprache.
Wilder muss sich wie Joshua ebenfalls den Vorwurf gefallen lassen, nicht alles für diesen ersehnten Kampf getan zu haben. Die beiden Lager schieben sich die Schuld gegenseitig in die Schuhe. Lachender Dritter ist Tyson Fury. Ob es zu einem Rückkampf zwischen ihm und Wilder kommen wird, steht im Moment noch in den Sternen. Die Chancen dazu stehen aber gut.
Boxen ist immer dann spektakulär, wenn möglichst unterschiedliche Gegner aufeinandertreffen – und beide über die Mittel verfügen, den Kampf frühzeitig zu beenden. Der euphorisierende Kampf am Samstag (Sonntagmorgen) hat diese These wieder einmal bestätigt. Auch Wilder musste gegen Fury bange Momente durchleben.
Jerry Izenberg, der renommierte Boxjournalist aus den USA, beschreibt in seinem Buch «Once There Were Giants» das Schwergewichtsboxen zwischen 1962 und 1997 als goldene Ära. Sie begann mit dem Sieg von Sonny Liston gegen Floyd Patterson und endete mit Tysons Ohrbiss gegen Evander Holyfield. Von einer nächsten goldenen Ära zu sprechen, ist noch verfrüht. Aber als am Samstag Tyson Fury völlig überraschend von den Scheintoten zurückkehrte und am Ende ein Unentschieden erreichte (Wilder kann sich dafür bei den Ringrichtern bedanken), begann etwas. Etwas Interessantes, etwas Aufregendes.
Wilder, Fury und Joshua können sich alle gegenseitig schlagen. Und das trotz höchst unterschiedlichen Stilen. Das Salz in der Suppe sind die drei Charaktere, welche hervorragende Voraussetzungen für weitere spannende Kämpfe schaffen.
Schwergewichtsboxen ist wieder da.
PS: Bereits am 8. Dezember folgt das nächste Boxhighlight. Wassyl Lomatschenko kämpft gegen José Pedraza um diverse Weltmeistertitel. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.