Lokalhistoriker können auch ohne Kenntnisse des Motorsportes durchaus erklären, aus welchem Holz Dominique Aegerter geschnitzt ist. Weil er aus Rohrbach kommt.
Rohrbach ist ein Dorf mit knapp 1500 Einwohnern am unteren Rand des Emmentals, dort wo die grünen Hügel ins flache Mittelland auslaufen. An der Kulturgrenze zwischen Ländler und Pop, zwischen Trachtenmeitschi und Girls. Die Alten sagen heute noch wenn irgendetwas passiert: «Z'Rohrbach bim Donner!» Was ungefähr bedeutet: «Halt in Rohrbach, Herrgott nochmal!»
Im benachbarten, vornehmen Städtchen Huttwil (knapp 5000 Einwohner) wurden im vorletzten Jahrhundert die Sozialfälle und die aufmüpfigen Einwohner jeweils so schnell wie möglich nach Rohrbach ausgeschafft. Um Ruhe zu haben. Im Laufe der letzten 200 Jahre haben die Dorfbewohner in Rohrbach eine eigene Mentalität, eine ganz besondere Eigenwilligkeit, Zähigkeit und Tüchtigkeit entwickelt. Wer hier aufwächst, ist aus dem Holz, aus dem Sieger geschnitzt werden.
Dominique Aegerter ist in Rohrbach aufgewachsen und wohnt immer noch dort. Sein Bruder Kevin treibt auch Sport: Er ist Trainer der zweiten Mannschaft des SC Huttwil und es gelang seinem Team auf wundersame Weise im allerletzten Saisonspiel auswärts durch einen Sieg den Abstieg zu vermeiden. Auch er ein Winner.
Sieger zeichnen sich dadurch aus, dass sie nie mit der zweitbesten Möglichkeit zufrieden sind. In Assen hätte Dominique Aegerter mit Sicherheit einen Podestplatz herausgefahren. Aber er wollte den Sieg, pokerte bei der Reifenwahl zu hoch und verlor (21. Platz). Er hatte beim GP von Deutschland auf dem Sachsenring den 2. Platz auf sicher.
Aber er wollte den Sieg, riskierte alles und holte durch ein Ausbremsmanöver, das in die Töff-Geschichte eingehen wird, den Sieg. Er ist von allen unseren bisherigen GP-Siegern nicht der talentierteste, aber der extremste Siegertyp. Mit dem Selbstvertrauen eines Rockstars und doch einer bodenständigen Bescheidenheit.
Aber es ist eine kontrollierte Risikobereitschaft. Dominique Aegerter hat alle 77 Moto2-Rennen bestritten und ist in dieser Zeit in Training und Rennen nur 15mal gestürzt. Zum Vergleich: Bei Tom Lüthi sind es im gleichen Zeitraum 31 Stürze und in lediglich 52 Moto3-Rennen erwischte es Randy Krummenacher 36mal. Tom Lüthi ist heute noch der talentiertere Fahrer. Aber er ist ein weniger extremer Siegertyp und inzwischen auch nicht mehr so robust wie die neue Nummer eins im Schweizer Töffuniversum.
Dominique Aegerter hat längst die Konstanz, um den WM-Titel zu holen. Nun ist er auch dazu in der Lage, Rennen zu gewinnen. Es ist die Mischung aus Konstanz und Risikobereitschaft, die Weltmeister macht.
Tom Lüthi holte seinen ersten GP bereits im Alter von 17 Jahren im 40. Rennen und im gleichen Jahr auch gleich den WM-Titel. Er ist in einem gewissen Sinne ein «one-year-wonder» geblieben. Seit diesem WM-Titel von 2005, der ihm damals auch gleich die Auszeichnung zum Sportler des Jahres einbrachte, hat er weitere Rennen gewonnen. Aber ab Saisonmitte hatte er seither nie mehr die Chance auf einen Titelgewinn.
Dominique Aegerter hat seinen ersten Sieg erdauert. Er ist kein Wunderkind, wie es damals Tom Lüthi war. Er hat sich bereits eine sehr solide Basis erarbeitet die es ihm möglich macht, im nächsten Jahr um den Titel zu fahren. Und er hat seine besten sieben Jahre noch vor sich.
Für Sieger verändert sich die Welt. Neue Türen öffnen sich. Verlockende Möglichkeiten tun sich auf. Dominique Aegerter könnte nächste Saison in einem nicht konkurrenzfähigen MotoGP-Team unterkommen. Er kann sich jetzt auch die Teams in der Moto2-WM aussuchen. Denn Siegertypen sind rar. Sogar das steinreiche Team des katarischen Verbandes (zurzeit mit Anthony West und Roman Ramos) ist inzwischen interessiert. Die Scheichs haben alles Geld der Welt. Aber keinen Siegfahrer.
Der legendäre Enzo Ferrari pflegte zu sagen: «Es ist wichtig zu wissen, warum man ein Rennen verloren hat. Aber es ist noch wichtiger zu wissen, warum man ein Rennen gewonnen hat.» Dominique Aegerter hat nicht nur seinen ersten GP gewonnen, weil er ein Siegertyp ist. Er hat auch gewonnen, weil er ein Team hat, das ihm die technischen Möglichkeiten dazu schafft. Ein Team um den französischen Cheftechniker Gilles Bigot, das als einziges im Fahrerlager dazu in der Lage war, die Probleme mit der Suter-Maschine zu lösen.
Dominique Aegerters tüchtiger Manager Dr. Robert Siegrist machte an diesem Wochenende auf dem Sachsenring bei den Teammanagern die Runde und hinterliess seine Visitenkarte unter anderem beim französischen Team «Tech3». Der Zürcher Rechtsanwalt hat es geschafft, seinem Klienten durch gute Werbeverträge ein Einkommen von brutto über 300'000 Franken zu verschaffen. Aber er darf es jetzt, in der Euphorie des ersten Sieges, nicht übertreiben.
Ein Team- oder gar ein Klassenwechsel auf die nächste Saison könnte die Karriere von Dominique Aegerter knicken. Er hat in jahrelanger Arbeit die Basis für GP-Siege und für einen aussichtsreichen Kampf um den Moto2-WM-Titel geschaffen.
Es wäre fatal, das alles für ein kurzes, aufregendes MotoGP-Abenteuer oder einen hochdotierten Vertrag in einem anderen Team aufzugeben.