Im Geschichtsbuch der Töff-WM stehen die Namen von 100 Fahrern, die in ihrer ganzen Karriere nur einen einzigen Grand Prix gewonnen haben.
Warum es bei einem Sieg geblieben ist, hat viele Gründe. Tragische wie bei den Schweizern Ueli Graf und Michel Frutschi, die im Zenit ihrer Karriere tödlich verunglückt sind. Andere gewannen nur einmal, weil sie von Zufällen profitieren. Wie der junge Nobody Alan Carter, der in Le Mans 1983 nur gewann, weil ihn unser Jacques Cornu kurz vor dem Ziel für einen überrundeten Fahrer hielt und nicht mehr attackierte.
Es gibt also durchaus Sieger, die einfach von Launen des Schicksals, einmaligen Konstellationen, Irrtümern ihrer Gegner oder sonstigen Kuriositäten profitierten.
Zum Klub dieser hundert Eintagsfliegen gehört jetzt auch Dominique Aegerter. Aber der erste GP nach seinem ersten Sieg hat in Indianpolis gezeigt, dass er ist kein Mann für diesen «Hunderter-Klub» ist. Die Frage ist nicht ob, sondern bloss wann er wieder ein Rennen gewinnt.
Für eine Analyse braucht es manchmal keine grossen Worte. Es genügt, einfach hinzuschauen. Wie an diesem Wochenende in Indianapolis. Dominique Aegerter hat mit Bestzeiten in zwei von drei freien Trainings, der Qualifikation für die 1. Startreihe und dem Podestplatz seinen Sieg vom Sachsenring zwar bestätigt.
Aber er mag nicht feiern. Es wurmt ihn, dass er nicht um den Sieg fahren konnte. Obwohl er sich körperlich noch bei keinem Rennen in dieser Saison so stark verausgabt hat. Er ist rot im Gesicht und schwitzt bei der Medienkonferenz wie wahrscheinlich noch nie nach einem Rennen. Hinterher stiefelt durchs Fahrerlager zurück in seine Box.
Er überspielt mit jungenhaftem Charme seinen Ärger und seine Enttäuschung, nimmt Gratulationen entgegen, gibt rechts und links Autogramme, lässt sich mit Verehrerinnen und Verehrern fotografieren (er ist jetzt eben ein Star).
Dass der erste Sieg für ihn nicht der gefühlte Höhepunkt der Karriere ist. Dieser Sieg ist für ihn vielmehr der gefühlte Anfang der besten Phase seiner Karriere. Er ist definitiv kein Mann für den Hunderter-Klub der Eintagsfliegen. Aber er ist auch noch nicht definitiv die Nummer 1 im Land.
Indianapolis hat nämlich noch etwas gezeigt. Dominique Aegerter hat einen Gegner, den er gerade jetzt nicht unterschätzen darf. Tom Lüthi (27). Nach dem zweiten Start war für den Emmentaler schon in der ersten Runde zwar alles zu Ende. Er wurde unschuldig in einen Massensturz verwickelt.
Der Sportler des Jahres 2005 steckt in der gefühlten grössten Krise seiner Karriere. Dominique Aegerter ist die klare Nummer 1 im Land. Aber es lohnte sich in Indianapolis, etwas genauer hinzusehen.
Tom Lüthi sitzt nach dem Rennen alleine in der Garage, die den Teams hier neben der Box zur Verfügung gestellt wird. Er mahnt an einen müden Vogel, der zu weit geflogen und jetzt froh ist, ein bisschen ruhen zu können. Die Erleichterung, heil davon gekommen zu sein, ist grösser als die Enttäuschung über den «Nuller».
Er schildert sein Missgeschick. Wie er von der Piste gedrängt wurde, stürzte, den Fuss unter dem Töff einklemmte und vom Amerikaner Josh Herrin überrollt wurde. Es ist ihm sehr wohl bewusst, dass er sehr viel Glück gehabt hat. Er betrachtet nachdenklich die blutende Fleischwunde am linken Unterarm und prüft immer wieder die Funktionsfähigkeit des verstauchten rechten Daumens.
Er könne alles bewegen, es gehe. Er hadert nicht mit dem Schicksal. Er strahlt vielmehr eine ruhige Entschlossenheit, einen stillen Trotz aus…
Mit ziemlicher Sicherheit ist Tom Lüthi in Indianapolis um einen Podestplatz gebracht worden. Als das Rennen in der vierten Runde abgebrochen wurde, fuhr er bereits die zweitschnellsten Rundenzeiten. Zwei Zehntel schneller als Dominique Aegerter und er hatte gerade begonnen, das Feld zügig von hinten aufzurollen. Nach drei, vier Runden hätte er Dominique Aegerter in Sichtweite gehabt.
Obwohl der Sportler des Jahres 2005 (vor Roger Federer) tatsächlich in einer schweren Krise steckt, steht er im WM-Gesamtklassement nach wie vor auf Rang 6. Und er hat sich diese Saison in zehn Rennen immerhin viermal vor Dominique Aegerter (WM-4.) klassiert. Es ist eine Krise auf hohem Niveau.
Die Favoritenrolle hat Tom Lüthi noch nie behagt und er ist sie jetzt definitiv los. Am besten war er schon immer, wenn er als «Desperado» nichts mehr zu verlieren, aber alles zu gewinnen hatte. Wie vor einem Jahr nach seinem schweren Testunfall. In einer ähnlichen Situation ist er jetzt wieder. Die Sonne im helvetischen Töffuniversum ist jetzt Dominique Aegerter. Im Windschatten des frischen Ruhmes des Rohrbachers wird Tom Lüthi den Gegenschlag vorbereiten. Wir dürfen uns in der zweiten Saisonhälfte auf gute Unterhaltung freuen.