Zum besseren Verständnis: In einer griechischen Tragödie lässt sich die sich immer deutlicher abzeichnende Katastrophe, trotz allergrösster Anstrengungen der handelnden Personen, nicht mehr abwenden. Der tragische Charakter wird auch durch das Attribut «schuldlos schuldig» betont.
«Schuldlos schuldig» – das passt wahrlich gut zu Ambris verlorenen Helden. Wir haben soeben im Berner Hockey-Tempel Ambris leidvolle Geschichte seit 1937 zusammengefasst in einem einzigen Spiel durchlitten.
Oben auf den Anzeigetafeln sind die Uhren bei exakt 00.10 angehalten worden. Eine Zehntelsekunde vor Schluss hat Ryan Gardner zum 4:3 für den SCB getroffen. In einem Powerplay. Nach einer Strafe, die nach dem Regelbuch korrekt war. Aber zuvor hatten die Refs mindestens 15-mal in gleichen Situationen nicht gepfiffen. Und es passt, dass SCB-Star Ryan Gardner einst seine Karriere in Ambri begonnen hat. Dass er ohne Ambri vielleicht gar nie eine Hockey-Karriere gemacht hätte.
Seit dem ersten Spiel im September wissen wir, dass die Lakers die Saison wie üblich auf dem letzten Platz beenden. Nun ist die zweite Entscheidung gefallen. Alles hat sich gegen Ambri verschworen. Nach 37 Runden darbt die Mannschaft mit 38 Punkten (91:122 Tore) auf dem zweitletzten Tabellenrang. Die Playoffs sind verpasst.
Vor einem Jahr stand Ambri mit dem gleichen Trainer und Sportchef (Serge Pelletier) und mit einem nominell etwa gleich guten Kader nach 37 Umgängen mit 65 Punkten (101:87 Tore) auf der zweiten Position. Wie ist dieser dramatische Absturz nur möglich geworden?
Dazu passt das «schuldlos schuldig» aus der griechischen Tragödie. Das gilt für die ganze bisherige Saison und für eben dieses 3:4 in Bern. In der 13. Minute ist auch noch Topskorer Keith Aucoin ausgefallen. Der Kanadier erlitt bei einem Check eine Knieverletzung und noch ist unklar, ob oder wie lange er ausfallen wird. Am Montag folgen weitere medizinische Untersuchungen.
Ambri hat bereits sieben Ausländerlizenzen verbraucht. Für Keith Aucoin, Alexandre Giroux, Adam Hall, Francis Bouillon, Geoff Kinrade, Ryan O'Byrne und Edgar Masalskis. Die letzte muss wohl bis kurz vor Transferschluss (15. Februar für Ausländer, 31. Januar für Schweizer) aufgespart werden.
Warum haben diese verlorenen Helden der Leventina einfach kein Glück? Ist es Unvermögen? Ja, aber nur ein bisschen. Zu viele Torchancen zum 3:0 sind in Bern vergeben worden. Ein dritter Treffer in der Startphase hätte vielleicht zum Sieg reichen können. Aber ansonsten ist es Schicksal, ist es jenes Unglück, das Ambris «schuldlos schuldige» Helden immer wieder heimsucht.
Was kann Trainer und Sportchef Serge Pelletier dafür, dass schon wieder ein Ausländer verletzt ist? Was kann er dafür, dass es eine Zehntelsekunde vor Schluss noch zum 3:4 einschlägt? Und er ist ferner nicht dafür verantwortlich, dass sich mit Inti Pestoni einer seiner wichtigsten Spieler ausgerechnet im Cupspiel gegen den Erstligisten Bellinzona verletzte und 20 Spiele nicht zur Verfügung stand.
Ambris Erfolgsgeheimnis war letzte Saison die doppelte Besetzung auf der Torhüterposition (Sandro Zurkirchen, Nolan Schaefer). Mit Nolan Schaefer gab es keine Einigung mehr. Aber mit Michael Flückiger fand Serge Pelletier einen guten Ersatz.
Inzwischen hat eine Serie von Blessuren, Irrungen und Wirrungen dazu geführt, dass mit dem lettischen Nationalgoalie Egars Masalskis nach Sandro Zurkirchen, Michael Flückiger, Denis Saikkonen, Gianluca Hauser, Michael Tobler und Lorenzo Croce schon sieben verschiedene Goalies Ambris Tor gehütet haben.
Sieben Tore beim 3:4 in Bern, diese Saison sieben Ausländer und sieben Torhüter, in diesem Jahrhundert einmal sieben Mal hintereinander die Playoffs verpasst, sieben magere Jahre, sieben fette Jahre, sieben Todsünden, sieben Kardinaltugenden, sieben Geisslein und der Wolf, sieben Zwerge und Schneewittchen, die sieben Hengste (eine Bergkette im Emmental), sieben Brücken und Peter Maffay, die sieben Farben des Regenbogen, sieben Fliegen (die das tapfere Schneiderlein auf einen Streich erschlug) und sieben Weltwunder. Wenn wir dazu noch Ambris bisher erzielten 91 Tore durch die magische Zahl sieben teilen ist das Resultat die Unglückszahl 13 – irgendwie passt das alles zu Ambris tragischer Magie in dieser Saison.
Es würde jetzt noch grad zu allem passen, sollte auch noch Leitwolf Daniel Steiner (Rückennummer 77) Ende Saison die Leventina verlassen. Der 34-jährige eigenwillige Rock'n'Roller ist ja geradezu die Verkörperung dieses Klubs. Er könnte in einem der melancholischen Filme des finnischen Kultregisseurs Aki Kaurismäki die Rolle von Jari Kurri spielen. Es ist nachgerade ein Wunder, dass sich Kaurismäki noch nie um das Thema Ambri gekümmert hat.
Daniel Steiner ist Ambris bester Schweizer Torschütze. In Bern netzte er beim 3:4 zweimal ein. Er hat seinen Vertrag in Ambri noch nicht verlängert und sagt: «Diesmal werde ich erst am Saisonende meine Zukunftspläne verraten.»
Nach wie vor versuchen die Langnauer ihren einstigen Topskorer aus fernen NLA-Zeiten zurückzuholen und sind hoffnungsfroh. Denn Daniel Steiner hat in Langnau noch nicht abgesagt. Sportchef Jörg Reber sagt: «Wir stehen nach wie vor in Verhandlungen.»
Es würde schliesslich auch noch zu Ambris diesjähriger griechischer Hockeytragödie passen, wenn Daniel Steiner vorzeitig bei Langnau unterschreiben sollte und dann mit Ambri in der Liga-Qualifikation ausgerechnet gegen die Emmentaler um den Liga-Erhalt würfeln müsste. Er nimmt solche Aussichten gelassen. Er hat auf seiner Hockey-Weltreise (Bern, Langnau, ZSC, Lakers, wieder Langnau, Reading Royals, Adirondack, Rochester, wieder Langnau, Lugano) schon zu viel erlebt und sagt mit einer Schicksalsergebenheit, die einer nur in Ambri lernen kann: «Dann gäbe es wenigstens etwas zu reden und zu schreiben.»
Ach, wie wird alles bloss enden? Die Hockeygötter haben Ambri diese Saison so viel Ungemach bereitet, dass sie ein schlechtes Gewissen bekommen werden. Ambri wird sich spätestens in der Liga-Qualifikation retten und nach dem erlösenden Sieg im 7. Spiel wird in der Valascia «La Montanara» wunderbar durch die milde Frühlingsluft erklingen.
«Hörst du La Montanara
Die Berge sie grüssen dich
Hörst du mein Echo schallen
Und leise verhallen
Dort wo in blauer Ferne
Die Welten entschwinden
Möcht' ich dich wieder finden
Mein unvergessenes Glück.»
Ja, so könnte es kommen. So wird es kommen. So muss es kommen. Es wäre ein versöhnlicher Abschluss. Und dann wird Daniel Steiner das Herz so schwer und mit Tränen in den Augen wird er denken: Ach, hätte ich doch nicht schon in Langnau unterschrieben und könnte in Ambri bleiben …