Zuerst ein bisschen Statistik. Garantiert keine Polemik. Wer es lieber polemisch mag, kann ja diesen Part überspringen.
Also: Der 23. Dezember hat es wahrlich in sich. Am 23. Dezember 2010 reisen die ZSC Lions unter Bob Hartley nach Genf. Allen ist klar: Im Falle einer Niederlage wird der Trainer gefeuert. Die Zürcher gleichen in Unterzahl (3 gegen 5) aus, gewinnen das Penaltyschiessen und werden schliesslich Meister.
Am 23. Dezember 2017 steht Hans Wallsson vor der Entlassung. Er gewinnt in Lausanne 2:1 nach Verlängerung – und muss trotzdem gehen. Sein Nachfolger Hans Kossmann wird Meister.
Am 23. Dezember 2018 kann sich Serge Aubin keine Niederlage mehr leisten. 31,2 Sekunden vor Schluss gleicht Fredrik Pettersson gegen Gottéron aus und erzielt in der Verlängerung den Siegestreffer zum 3:2. Der tapfere Goalie-Titan Reto Berra war machtlos.
Dreimal 23. Dezember, dreimal Siege erst jenseits der 60. Minute und bereits zweimal später ein Meistertitel. Drama tut den ZSC Lions gut. Die Frage nun: Stehen die ZSC Lions im Dezember nun näher am Verpassen der Playoffs (wie der SCB nach dem Titel von 2013) oder näher am Titel wie 2011 und 2017?
Die ZSC Lions begehen viele spielerische und taktische Sünden. So viele, dass die Position von Cheftrainer Serge Aubin (43) ohne jede Boshaftigkeit in Frage gestellt werden darf.
Wenn im Spiel einer so erfahrenen, routinierten und teuren Mannschaft so oft das Chaos ausbricht, dann gibt es irgendwo im Maschinenraum ein Problem. Dem stimmt Serge Aubin durchaus zu. Er sagt, das Spiel ohne Scheibe müsse besser werden.
Aber ein Vorwurf trifft nicht zu. Zu sagen, die ZSC Lions seien verwöhnte, arrogante, «uncoachbare» Diven ist erstens respektlos, zweitens polemisch und entspricht drittens ganz einfach nicht der Wahrheit.
Diese Mannschaft lebt. Die Zürcher kämpfen leidenschaftlich. Sie rocken im besten Wortsinn. Der Ausgleich gelingt gegen Gottéron mit einem Kraftakt sondergleichen. 1:42 Minuten vor Schluss ersetzte Serge Aubin Torhüter Lukas Flüeler durch einen sechsten Feldspieler, um das Powerplay noch kräftiger zu machen. Fredrik Pettersson, kein Freund des Trainers, trifft, wie wir bereits wissen, 31,2 Sekunden vor Schluss zum Ausgleich und in der Verlängerung zum 3:2.
Jaaaaawohl! @FredrikPetters2 pic.twitter.com/xBSB8LluH6
— ZSC Lions (@zsclions) 23. Dezember 2018
Diese Partie, aufwühlend, intensiv und dramatisch, war wie eine Auferstehung der ZSC-Kultur aus dem letzten Jahrhundert. Diese echte Kultur war geprägt von Chaos und Drama auf und neben dem Eis. Der Unterschied zu damals: Das Chaos auf dem Eis ist heute mindestens so gross. Aber neben dem Eis sind die ZSC Lions eine perfekt funktionierende und von Peter Zahner exzellent gemanagte Hockey-Firma.
Aber wenn wir den Unterhaltungswert nicht beachten und die ganze Sache stocknüchtern betrachten, so als wären wir neutrale Hockey-Sachverständige, dann müssen wir ein wenig die Stirne runzeln.
Dass die Balance im Spiel nicht stimmt, zeigt sich schon daran, dass in einer der offensiv bestbesetzten Mannschaften Mitteleuropas ein Verteidiger (Maxim Noreau) den gelben Helm des Topskorers trägt und der alte NHL-Haudegen Kevin Klein (34), der eigentlich im letzten Frühjahr in Pension gehen wollte, gegen Gottéron bei allen drei Treffern den Stock im Spiel hatte.
Die ZSC Lions sind eigentlich eine spielerisch grosse Mannschaft. Eigentlich. Aber sie spielen zu wenig präzis, um den Puck mit Tiki-Taka-Hockey für sich arbeiten zu lassen. Sie laufen lange Wege mit dem Puck, sie müssen die Gegner vom Eis arbeiten, sie verbrauchen zu viel Energie.
Oder um es etwas polemisch zu sagen: Die spielerischen New Yorker Philharmoniker spielen Free Jazz. Interessanterweise erkennen wir im Spiel der ZSC Lions die gleichen Elemente wie im Free Jazz: freie Rhythmik, Einflüsse aus verschiedenen Stilrichtungen und keine Trennung mehr zwischen Solo- und Begleitungspart.
Noch etwas boshafter: Die New Yorker Philharmoniker leisten sich exzellente Chefdirigenten. Grosse Orchester brauchen grosse Dirigenten. Serge Aubin ist (noch?) kein grosser Dirigent. Noch kein Leonard Bernstein des Eishockeys.
Um Free Jazz zu spielen, braucht es hingegen keinen Dirigenten. Ja, es swingt erst so richtig, wenn der Improvisation keine Grenzen gesetzt werden. Wie bei den ZSC Lions. Sie spielen chaotisches Free-Jazz-Hockey. Aber ein meisterliches. Aber der Chronist rät dringend davon ab, gegen die ZSC Lions zu wetten. Sie bleiben ein heisser Titelkandidat – wenn sie die Playoffs schaffen.
Und nun noch ganz, ganz, ganz boshaft. Kritiker monieren, dieser Erfolg über Gottéron sei ein Pyrrhussieg. So werde die Amtszeit von Serge Aubin verlängert und der ideale Zeitpunkt für den Trainerwechsel verpasst. Der Ausdruck Pyrrhussieg wird auf König Pyrrhos zurückgeführt, der nach einem Sieg über die Römer gesagt haben soll: «Noch so ein Sieg, und wir sind verloren.». Auf die ZSC Lions übertragen: Noch so ein Sieg wie gegen Gottéron und wir bringen Serge Aubin nicht mehr von der Bande weg und können den Titel nicht verteidigen.
Das ist wahrlich boshaft. Aber Serge Aubin verbleibt auch nach dem Drama-Sieg gegen Gottéron in einer weit heikleren Tabellenlage, als es Bob Hartley und Hans Wallsson am 23. Dezember 2011 bzw. 2017 waren. Anders als sein kanadischer und schwedischer Vorgänger liegt er mit der Mannschaft nicht auf einem Playoff-Platz.
Trotzdem geht der freundliche Kanadier davon aus, dass er am 29. Dezember, wenn seine Boys nach der Pause wieder zum Training antraben müssen, nach wie vor ZSC-Trainer sein wird. «Ich konzentriere mich auf meine Arbeit, auf das, was ich beeinflussen kann.» Alles andere kümmere ihn nicht. Wo er recht hat, da hat er recht.
Item, die Storys über den finnischen Erfolgstrainer Erkka Westerlund (61), der zusammen mit seinem langjährigen Assistenten und Kumpel Hannu Virta (55) sofort nach Zürich kommen könnte, standen nur 31,2 Sekunden vor der Publikation. Sie verbleiben vorerst in der Schublade.
Es ist, wie es ist: 31,2 Sekunden vor Schluss drehten die ZSC Lions die Partie. Eine weitere Niederlage hätte Serge Aubin den Job gekostet. Er stand 31,2 Sekunden vor seiner Entlassung.
In der doch nach wie vor heiklen Lage überlassen wir das weihnächtliche Schlusswort ZSC-Manager Peter Zahner (57): «Sie wissen doch, dass ich mich nicht zur Trainerfrage äussere.»