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Eine Reise zum Mittelpunkt der Hockey-Erde: Ambri

Ambri’’s fans celebrate victory at the end of the preliminary round game of National League Swiss Championship 2018/19 between HC Ambri Piotta and SCL Tigers, at the Valascia Stadium in Ambri, Switzer ...
In dieser Saison ist es besonders schön, ein Ambri-Fan zu sein.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS
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Eine Reise zum Mittelpunkt der Hockey-Erde: Ambri

Der Mythos Ambri lebt wie nie zuvor im 21. Jahrhundert. Nicht allein Sieg und Niederlage machen die Faszination aus. Es ist die Art und Weise, wie Eishockey gelebt wird: Ein Spiel wirkt wie ein Rocksong.
06.01.2019, 17:1406.01.2019, 18:05
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Spätestens dann, wenn die Tribüne leise zu beben, zu schwanken beginnt, ist klar: Wir sind am Mittelpunkt der Hockey-Erde angekommen. In Ambri. In diesem verlassenen Dorf, das in einer dunklen Winternacht auf den Fremden wirkt wie eine Landschaft aus den Geschichten von John Ronald Reuel Tolkien, dem Autor von «Herr der Ringe».

Um die Seele des Eishockeys, dieses archaischen Spiels zu verstehen, sollten wir jedes Jahr mindestens einmal im tiefen Winter nach Ambri fahren. Die Reise dorthin ist wie ein Erweckungserlebnis.

Die Fans singen «La Montanara» beim Sieg am Samstag gegen die SCL Tigers.Video: YouTube/schachner9

Auf der Autobahn durch Luzern verlässt der Reisende die Eishockeywelt, wie wir sie kennen. Die Welt der modernen Stadien, die inzwischen überall in der Welt fast gleich aussehen. Die mehr an die Abflughallen von internationalen Flughäfen als an die mythischen Kraftorte des Eishockeys mahnen.

Ein Eishockeystadion wie eine hell erleuchtete Raumstation

Die Fahrt entlang den dunklen Wassern des Vierwaldstättersees, durch das Bergland der Innerschweiz, im Schneegestöber hinauf zum Gotthard, dieser steinernen Seele der Schweiz, mit beklemmendem Gefühl durch den Tunnel unter dem Bergmassiv durch und schliesslich zur Arena durch das Dorf, das wirkt wie aus den letzten Tagen der Menschheit. Die Lampen der Strassen-und Weihnachtsbeleuchtung werfen ein kaltes Licht über den Asphalt. Aber keines der Fenster der steinernen, seelenlosen Häuser ist erleuchtet.

Diese Reise stimmt den Reisenden demütig. Er äusserst sich nur noch vorsichtig und bangend über das Schicksal, das «sein» Team nun ereilen wird. Bloss ein Narr erwartet das Spiel noch mit frivoler Siegesgewissheit. In dieser Urlandschaft wirkt die Hockey-Kultstätte Valascia wie eine hell erleuchtete Raumstation und die Gastronomieeinrichtungen drum herum wie eine hastig gezimmerte Westernstadt.

Auf dem Fussmarsch vom Dorf zum Stadion sind in der Dunkelheit die gewaltigen Berge, die hinter dem Stadion aufragen und in der Dunkelheit verschwinden, mehr zu spüren als zu sehen. Wer diese gewaltige Kulisse auf sich wirken lässt, kann verstehen, warum der Lyriker Erich Fried einmal gesagt hat: «Zu den Steinen hat einer gesagt: ‹Seid menschlich.› Die Steine haben gesagt: ‹Wir sind noch nicht hart genug.›»

Das Eishockeystadion Valascia von Ambri, am Samstag, 22. Dezember 2018, in Quinto. Heute war die Grundsteinlegung fuer das neue Stadion. Das neue Eisstadion soll im Sommer 2021 bezugsbereit sein und 7 ...
Wo du besser lange Unterhosen anziehst: die Valascia in Ambri.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS

Nie war Ambri echter, ursprünglicher als in diesen Tagen

Ja, so ist das. Einmal im Jahr sollten wir bewusst die Fahrt hinauf, hinüber nach Ambri machen und auf uns wirken lassen. Für ein paar Stunden der Welt der sterilen Stadien und schönen TV-Farbbilder, der blutleeren Statistiken und Analysen entfliehen. Dann verstehen wir die Seele des Eishockeys wieder besser.

Eine Mannschaft, die hier ihre Heimat hat, kann nicht eine gewöhnliche sein. Erst recht seit sie, beinahe zu spät, wieder zu ihren Ursprüngen zurückgekehrt ist und nicht mehr versucht, so zu sein wie die Konkurrenten.

Nie war Ambri echter, ursprünglicher als in diesen Tagen im Januar 2019. Eigentlich genügt es, in knappen, dürren Worten die Zusammensetzung des ersten Sturmes zu schildern.

Ein Trio, das nur Ambri auf dem Zettel hatte

Über die linke Aussenbahn ein Österreicher, so frisch, fesch, freundlich und unkompliziert, dass dem Chronisten spontan der Text zu einem Lied über das Leben auf der Alm einfällt: «Und du weisst ja meine Hüttn und du kennst ja meine Küh, ja! Aufm Fensterl liegt der Schlüssl, geh, komm eini zu mir.» Dominic Zwerger (22), mit Vertrag bis 2020.

Ambri's player Dominic Zwerger celebrate the 3 - 1 goal, during the preliminary round game of National League Swiss Championship 2018/19 between HC Ambri Piotta and HC Lugano, at the Valscia stad ...
Zwerger: 33 Punkte in 31 Spielen.Bild: TI-PRESS

In der Mitte dirigiert ein kleiner, freundlicher, junger Mann mit magischen Händen aus dem nebelverhangenen Unterland. Aus Olten, der Stadt am grossen Fluss, wo sich die eisernen Schienenwege alle kreuzen. Marco Müller (24), mit Vertrag bis 2020.

Über die rechte Aussenbahn fliegt der «Peter Pan des Ostens», der «böhmische Blitz», ein schlaksiger, beinahe fragil wirkender junger Mann. Dominik Kubalik (23). Mit Vertrag bis 2020, aber für unsere Liga eigentlich zu gut und wahrscheinlich nächste Saison in der NHL.

Ambri's player Dominik Kubalik during the preliminary round game of National League Swiss Championship 2018/19 between HC Ambri Piotta and SCL Tigers, at the Valascia Stadium in Ambri, Switzerlan ...
Kubalik: 39 Punkte in 31 Spielen.Bild: KEYSTONE/TI-PRESS

Kubalik führt die Liga-Skorerliste vor Zwerger an und der spielerische Taktgeber Müller folgt auf Position zwölf. Der beste Sturm der Liga. Wenn wir erklären wollen, warum Ambri die Überraschungsmannschaft der Saison geworden ist, und was Sportchef Paolo Duca besser gemacht hat als seine Berufskollegen, dann müssen wir bloss kurz schildern, wie dieses Trio zu Ambri gekommen ist.

Andere hatten halt nur telefoniert

Dominic Zwerger hat eine Schweizer Lizenz, weil er als Junior für den HC Davos gespielt hat. Dann zog er ins ferne Amerika, um dort das Hockeyhandwerk noch besser zu erlernen. Er sagt, er habe nach Abschluss seiner Lehrzeit auch von anderen Klubs Offerten gehabt. Beispielsweise von Lugano und Fribourg-Gottéron. Aber er bekam im Sommer Besuch von den Männern aus Ambri. «Sie haben mir ihre Hockey-Vision erklärt und ich dachte: Ja, das passt.» Andere hatten halt nur telefoniert.

Marco Müller hat als Junior seine finale Ausbildung beim SC Bern genossen. Dort ist er als unbrauchbar für höhere Aufgaben taxiert worden (so etwas kommt in der grössten Hockeyfirma des Landes öfters vor) und so ist er in Ambri gelandet. Er war den dortigen Talentsuchern schon lange aufgefallen. Inzwischen ist er einer der besten Schweizer Center. Vielleicht zu klein, zu fragil, um einen WM-Sturm zu dirigieren. Aber perfekt für unsere Lauf- und Tempoliga.

Lugano's player Thomas Wellinger, Lugano's goalkeeper Elvis Merzlikins, Ambri's player Marco Mueller, from left, during the regular season game of the National League Swiss Championship ...
Müller: 26 Punkte in 31 Spielen.bild: keystone

Dass es Dominik Kubalik gibt, wussten die anderen Sportchefs der Liga gar nicht. Und so war es für Sportdirektor Paolo Duca gar nicht so schwierig, den tschechischen Sause- und Brauseflügel, den spektakulärsten Einzelspieler der Liga zu verpflichten.

Spieler kommen und gehen, Ambri aber bleibt bestehen

Das sind die drei Säulen der Weisheit Ambris: Eine Vision, die begeistert (und Dominic Zwerger dazu gebracht hat, nach Ambri zu kommen), der wache Geist, der die Talente im Lande erkennt und Marco Müller entdeckt hat, und schliesslich ein globales Netz von Gewährsleuten, die melden, wenn in Böhmen hinten ein Stürmer nur so über die Aussenbahnen fliegt (Dominik Kubalik).

So hat Ambri einen Vorsprung gegenüber jenen Sportchefs, die bloss in warmen Büros sitzen – einer gar unter Palmen – ein wenig herumtelefonieren und im Internet stöbern.

Luca Cereda, neuer Trainer des HC Ambri-Piotta, rechts, posiert zusammen mit Praesident Filippo Lombardi, Mitte und Sportchef Paolo Duca, links, einer Medienkonferenz des HC Ambri-Piotta in Bellinzona ...
Baumeister des Erfolgs: Sportchef Duca (links) und Trainer Cereda (rechts) mit Präsident Lombardi.Bild: TI-PRESS

Aber zugleich erklärt uns diese erste Linie eben auch die Mühsal, in einer kargen hochalpinen Urlandschaft fernab den urbanen Zentren eine Hockeyfirma zu betreiben. Gelingt es Paolo Duca, die Verträge von Kubalik, Zwerger und Müller 2020 zu verlängern, wenn seine Berufskollegen, die in warmen Büros sitzen – einer sogar unter Palmen – ein wenig herumtelefonieren und im Internet stöbern, ihre von Milliardären geäufneten Transfer-Geldspeicher aufschliessen? Wahrscheinlich nicht. Und dann muss Ambris Sportdirektor halt wieder von vorne beginnen. Aber tief im Herzen bleibt die Zuversicht: Spieler kommen und gehen, Ambri aber bleibt bestehen.

Der Reisende muss gut planen

Die Krönung einer Reise zum Mittelpunkt der Hockeywelt – «La Montanara», das Lied der Berge – ist nicht jedem Fremden vergönnt. Es wird nämlich nur angestimmt, wenn das Heimteam siegt. Eine Fahrt nach Ambri, ohne «La Montanara» gehört zu haben, ist wie eine Reise nach Paris ohne Liebe.

Der Reisende muss also gut planen. Mit Bedacht wählt er ein Spiel aus, das Ambri wahrscheinlich gewinnen wird. Zum Beispiel eines der SCL Tigers. Und tatsächlich: Ambri triumphiert gegen die Langnauer mit 5:2. Natürlich steht der erste Sturm am Ursprung von vier der fünf Tore.

Die Highlights des Spiels.Video: YouTube/MySports

Das Spiel beginnt zurückhaltend. Ambri hat am Vorabend Lugano gedemütigt. «Wir hatten nur noch etwa 80 Prozent unserer Emotionen», wird Trainer Luca Cereda hinterher sagen.

Spieler singen mit Fans mit

Erst sind da nur ein paar vereinzelte Schüsse und Checks. Wie die ersten unsicheren Akkorde von einem Lied. Aber dann, so gegen die Mitte, braust es auf wie ein Sturm. Ambris Spiel wird gross, kräftig, mitreissend, energiegeladen wie ein Rocksong. Als kurz vor «Halbzeit» in weniger als zwei Minuten mit dem 3:1 und 4:1 die Entscheidung fällt, wird die Begeisterung körperlich spürbar: Die Tribüne beginnt leise zu schwingen. Ja, es ist wahr: Die Tribüne beginnt zu schwingen. Das «Sieges-Beben». Das gibt es in keinem anderen Stadion der Welt.

Fans und Spieler feiern den Sieg über Langnau ausgiebig.Video: YouTube/schachner9

Und dann, ja dann kommt «La Montanara». Der Chronist denkt spontan: Ob die Spieler wohl mitsingen? Ja, sie tun es. Die Magie erfasst alle. «Ich singe mit», sagt Marco Müller. Bei der Verabschiedung von den Fans vor der «Curva Sud» spüre er noch einmal die Energieströme im Stadion. «Unsere Fans sind einfach unglaublich. Es ist, als habe man Augenkontakt, ich habe so etwas noch nie erlebt.»

Und singt der Trainer auch mit? «Nein, nie», sagt Luca Cereda. Wenn «La Montanara» ertöne, verschwinde er so schnell wie möglich in der Kabine. «Die Siegeshymne gehört den Spielern. Nicht dem Trainer.»

«Die Siegeshymne gehört den Spielern. Nicht dem Trainer.» Das ist die Bescheidenheit, die Demut, die ewige Weisheit, die hinter Ambris Grösse und Magie stecken. Gelebt von Luca Cereda, einem Sohn der Leventina. So lange diese Bescheidenheit, diese Demut und diese ewige Weisheit leben, geht Ambri nicht unter.

Tabelle der National League

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tabelle: srf

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25 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MyPersonalSenf
06.01.2019 17:46registriert Mai 2018
Schön gesagt, einmal im Jahr sollte jeder mal in die Valascia.. man versteht dies nämlich nur, wenn man es selber mal erlebt hat.. für mich persönlich ist es jedesmal eine Art „nach Hause kommen“. Ich hoffe dieses Jahr wird mit Playoffs und vielleicht noch mehr gekrönt!
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Der Siebner
06.01.2019 18:23registriert Februar 2014
Brillianter Artikel Eismeister - grosses Kino
19214
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deepsprings
06.01.2019 18:26registriert Februar 2015
Obwohl ich nicht so Fan von Zaugg bin, diesmal ein grossartiger Artikel!
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