Die Chance war minimal. Aber sie bestand. Deshalb hat sich Reto Berra ja eine NHL-Ausstiegsklausel bis 15. Juli in seinen Vertrag schreiben lassen. Nun hat er sie genutzt – obwohl er in Fribourg bereits eine Wohnung hatte. Obwohl er in Anaheim bloss 700'000 Dollar brutto verdient. Davon geht die Hälfte durch Steuern weg. Die Wohnung und das Auto muss er auch selber bezahlen. Er wird weniger verdienen als in Fribourg. Und warum geht er trotzdem? Weil er ein grosser Spieler ist.
Ein grosser Spieler strebt immer nach dem höchsten aller Ziele. Das ist die Dynamik, das Wesen des Leistungssports. Verzichtet er auf die Chance, auf allerhöchstem Niveau zu spielen, dann ist er nur noch ein gewöhnlicher, aber nicht mehr ein grosser Spieler. Das höchste aller Ziele ist nun mal die NHL. Nicht nur wegen des Geldes. Noch viel mehr, weil es die beste, die wichtigste, die mächtigste Liga der Welt ist. Das Geld spielt auch eine Rolle. Aber nicht die wichtigste. Wenn nur noch Geld zählt, dann ist ein Spieler verloren.
Reto Berra ist ein grosser Spieler. Er strebt noch immer nach dem höchsten aller Ziele. Deshalb war er dazu in der Lage, uns im Halbfinal der WM 2013 gegen die USA ins Finale zu hexen (3:0). Nun bekommt er noch einmal die Chance, auf dem allerhöchsten Level zu spielen. Also nützt er sie. Das ist so, wie wenn der Verwalter einer lokalen Sparkasse auf einmal die Chance bekommt, bei der Nationalbank zu arbeiten. Ist er ehrgeizig, dann nützt er diese einmalige Gelegenheit und sagt auch dann zu, wenn er weniger verdient.
Oder ist Reto Berra ein Verräter? Hat er Gottéron schamlos im Stich gelassen? Nein. Er hat sich ja die NHL-Freigabe bis 15. Juli in den Vertrag schreiben lassen. Das ist die schriftliche Bestätigung, dass er, wenn möglich, in der NHL spielen will. Sportchef Christian Dubé hat ihm diese Ausstiegsklausel im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte gewährt. Er hat gewusst, er hatte es schriftlich, dass er erst ab dem 15. Juli sicher sein kann, dass Reto Berra bleibt.
Die Chance, dass Reto Berra geht, war klein. Aber sie war da und er hat sie bekommen, ohne aktiv zu suchen. Der Vertrag mit Gottéron bleibt gültig und wenn Reto Berra in die Schweiz zurückkehrt, dann muss er bei Gottéron spielen. Wer in den Emotionen des Augenblicks denkt, Reto Berra habe sich mit diesem vermeintlichen Verrat seine Karriere in der Schweiz verbaut, er werde bei Gottéron im Falle eines Falles später nicht mehr erwünscht sein, der irrt sich.
Erstens vergisst das Publikum schnell und zweitens sind so gute Torhüter immer begehrt. Er kann damit rechnen, dass er im Falle eines Falles in einem Jahr bei Gottéron wie der verlorene Sohn im Buch der Bücher empfangen wird – oder, wenn Gottéron dann nicht auf den Vertrag bestehen sollte – bei einem anderen Klub die Nummer 1 werden kann.
Gouverner c'est prévoir. Gut managen heisst, sich vorsehen. So lautet die Formel für gute Staats- und Unternehmensführung. Christian Dubé ist von Reto Berra nicht dupiert worden. Christian Dubé ist ganz einfach der schlechteste Sportchef unserer Hockeygeschichte. Erst gewährt er Reto Berra die Ausstiegsklausel und dann transferiert er seinen bisherigen Torhüter Benjamin Conz vor dem 15. Juli zu Ambri.
Der Torhüter nimmt die sensibelste, wichtigste Position der Mannschaft ein. Gottéron ist letzte Saison auch wegen ungenügender Torhüterleistungen in die Krise geraten. Christian Dubé hatte es versäumt, eine solide Nummer zwei zu verpflichten. Jetzt hat er blindlings Reto Berra vertraut. Obwohl er aufgrund der Ausstiegsklausel damit rechnen musste, dass sein Torhüter abspringen könnte.
Gute Sportchefs wappnen sich in einer unberechenbaren Sportart – die erst noch auf einer rutschigen Unterlage gespielt wird – gegen das Unvorhersehbare so weit wie möglich. Sie sind sensibel und ahnen, spüren oft, wohin die Reise gehen könnte. Zu den ganz wenigen Möglichkeiten, sich absichern zu können, gehören Verträge. Nun ist Christian Dubé an einer simplen Vertragsfrage gescheitert.
Was nun? Eines ist klar: Ohne starke, charismatische Nummer 1 im Tor ist Gottéron ein Abstiegskandidat. Eine Rücknahme von Benjamin Conz macht inzwischen keinen Sinn mehr. Warum nicht einen ausländischen Torhüter verpflichten? Und Martin Gerber aus dem Ruhestand holen und als Nummer zwei verpflichten? Gerber ist inzwischen zwar verletzungsanfällig geworden. Aber das weiss Christian Dubé wahrscheinlich gar nicht.
Welche Lösung Christian Dubé findet, ist für seine Position inzwischen unerheblich. Er ist so oder so nicht mehr tragbar. Letzte Saison machte er sich bereits mit seinem Theater um die Ausländerpositionen lächerlich. Ein Theater, das neben den Goalieproblemen ein wichtiger Grund für die Krise war. Einen seiner besten Ausländer transferierte er zu Biel und am Ende hatte er alle acht Lizenzen verbraten. Und nun ist er das Opfer einer Ausstiegsklausel geworden, die er freiwillig gewährt hat.
Gouverner c'est prévoir. Das gilt auch für Gottérons Verwaltungsrat. Die Suche nach einem Nachfolger von Christian Dubé, nach einem fähigen Sportchef, muss jetzt beginnen.