In der 29. Minute der Halbfinal-Partie des Spengler Cups zwischen Gastgeber Davos und dem HC Lugano kommt es zur dramatischsten und vielleicht folgenreichsten Szene des Tages.
HCD-Nationalstürmer Gregory Sciaroni fällt nach einer Kollision mit Luganos Alessio Bertaggia aus. Er hat eine Gehirnerschütterung erlitten und muss ins Spital überführt werden. Der beste Davoser Sturm existiert nicht mehr.
Es ist grausames Pech. Denn auf den Tag genau vor einem Jahr hat es den HCD-Stürmer im Spengler-Cup-Halbfinale gegen Team Canada erwischt. Er erlitt durch einen Zusammenprall mit Chris DiDomenico einen komplizierten Bruch in der Hand – Saisonende. Nun kann ein längerer Ausfall von Gregory Sciaroni den HCD zum ersten Mal in der «Ära Del Curto» die Playoffs kosten.
War es ein Foul? Die TV-Bilder sagen eindeutig: Ja. Die Schiedsrichter, die zur Beurteilung keine TV-Bilder zur Verfügung hatten, konnten die Situation unmöglich erkennen. Sie sind daher nicht zu kritisieren.
Erstaunlich hingegen, wie sämtliche vermeintliche Experten im TV-Studio und der sonst überaus kompetente Kommentator Claude Jaggi Unsinn plapperten, ein Foul ausschlossen und lediglich von einem unglücklichen Zusammenstoss fabulierten. Es war in der Tat ein überaus unglücklicher Zusammenstoss. Es ist auch richtig, dass keine böse Absicht von Alessio Bertaggia zu erkennen ist.
Aber die TV-Bilder zeigen eindeutig, dass Gregory Sciaroni beim Zusammenstoss von Alessio Bertaggias Schulter am Kopf getroffen wird. Das bedeutet: Check gegen den Kopf – ob mit böser Absicht oder nicht, spielt regeltechnisch bei der Entscheidung des Schiedsrichters keine Rolle. Die einzig richtige Entscheidung wäre deshalb gewesen: Fünfminutenstrafe plus Restausschluss.
Dass es keine böse Absicht war, spielt hingegen bei der Strafzumessung durch den Einzelrichter eine Rolle, der nach einem Restausschluss zu entscheiden hat, ob eine Sperre erforderlich ist. In diesem Falle hätte es keine Sperre gegeben.
HCD-Trainer Arno Del Curto regte sich an der Bande vorübergehend mit gutem Grund auf. Die richtige, verständliche und heftige Reaktion seiner aufgebrachten Spieler auf dieses Unglück entschied dieses Halbfinale: Sie waren aufgebracht, reagierten heftig, fielen aus dem taktischen Takt und kassierten den zweiten und dritten Treffer.
Arno Del Curto mochte nach dem Spiel nicht polemisieren: «Wenn wir komplett gewesen wären, hätten wir etwas reissen können. So nicht.»
Unter diesen Voraussetzungen war kein anderer Ausgang der ersten Spengler-Cup-Partie zwischen zwei Schweizer Teams seit 1965 (GC gewann gegen den HC Davos 4:3) möglich. Davos wehrte sich tapfer. Der flinke Torhüter Melvin Nyffeler hielt, was zu halten war. Aber bereits das 2:0 durch Dario Bürgler bedeutete das Ende aller Davoser Hoffnungen. Zum vierten Mal in Serie ist der HCD im Viertelfinale gescheitert.
Reicht es nun Lugano wenigstens heute im Spengler-Cup-Final gegen Team Canada für einen Titel? Seit 2006 hat Lugano immer verloren, oft kläglich, wenn es um etwas ging. Auch vor einem Jahr im Spengler-Cup-Endspiel gegen Team Canada (3:4). Wie YB im Fussball. Dabei hat Lugano so viel Geld und so viel Talent, dass es Titel, Triumphe und Trophäen hageln müsste. Wie YB im Fussball. Bei YB (letzter Titel Cupsieg 1987) hat das Versagen inzwischen Kultcharakter. Bei Lugano noch nicht.
Im Herbst hat Luganos Geschäftsführer Jean-Jacques Aeschlimann launig und mit unüberhörbarer Selbstironie vier Titel als Saisonziel angegeben: Meisterschaft,
Champions Hockey League, Cup und Spengler Cup.
Im Cup (gegen Langenthal) und in der
Champions Hockey League (gegen die ZSC Lions) ist Lugano bereits gescheitert. Heute kann Lugano gegen Team Canada erstmals den Spengler Cup und erstmals seit 2006 etwas gewinnen.
Für Luganos Nationalstürmer Dario Bürgler ist die Finalqualifikation das erste Highlight seit dem «Sündenfall» von Zug. Er ist dort im letzten Frühjahr als Sündenbock für das Versagen (im Play-off-Viertelfinal ausgeschieden) trotz laufendem Vertrag nach Lugano transferiert worden. Bereits jetzt lässt sich sagen, dass dieser unverhoffte Wechsel seine Karriere neu lanciert hat: Nach 34 Meisterschaftspartien hat er bereits 15 Tore erzielt – letzte Saison waren es in Zug 10 Treffer in 51 Partien. Sein Saisonrekord steht bei 22 Toren aus der Saison 2012/13 mit Davos – und den kann er übertreffen.
Der freundliche, kluge und «pflegeleichte» Flügel ist kein Mann der Konflikte. Er sei nicht im Zorn gegangen. «Natürlich war es für mich eine unangenehme Situation und ich wusste nach der Vertragsauflösung in Zug lange nicht, wie und wo es weitergeht. Aber so kann es im Profisport gehen. Ich habe diesen Wechsel als Herausforderung akzeptiert und fühle mich inzwischen in Lugano sehr wohl.»
Wird Dario Bürgler in dieser Saison der Stürmer, der für Lugano die entscheidenden Tore erzielt? Ja, warum nicht? Der Powerflügel (184 cm/93 kg) hatte seine beste Zeit unter Arno Del Curto – weil er dort dank intensivem Training so schnell war wie noch nie. Die Torgefährlichkeit des ehemaligen Zugers steht in direktem Verhältnis zu seiner Schnelligkeit. Nach zwei langsamen Jahren in Zug hat er in Lugano seine Tempofestigkeit wieder gefunden und er wird im Final gegen Team Canada ein Schlüsselspieler sein.
Aber so war es nicht. Der schmächtige Sciaroni läuft voll Garacho in den stämmigen Bertaggia, der nichts anderes macht, als dort zu stehen, die Körperspannung zu erhöhen und den Aufprall abzuwarten.
Pech für Sciaroni, dass es leider ihn erwischt hat, aber Glück, dass Bertaggia so robust auf den Beinen steht. Sonst wär Sciaroni der Bösewicht.