Es ist Krieg. Zum ersten Mal seit mehr als einem halben Jahrhundert beeinflusst ein Krieg direkt eine Eishockey-WM. Nicht nur, weil die Russen und die Weissrussen erstmals auf unbestimmte Zeit vom Turnier ausgeschlossen worden sind. Auch aus rein geographischen Gründen.
Gespielt wird in Tampere und Helsinki. Die finnische Hauptstadt ist nur 189 Kilometer oder gut zwei Autostunden entfernt von der russischen Grenze.
Finnland fühlt sich bedroht vom übermächtigen Nachbarn, mit dem es durch eine mehr als 1000 Kilometer lange Grenze verbunden ist, und beantragt unter Aufgabe seiner Neutralität die Aufnahme in die NATO.
Noch nie hat in der Neuzeit die politische Weltlage einen WM-Austragungsort so unmittelbar beeinflusst. Am ehesten war im April 1986 in Moskau ein Ereignis ausserhalb der Hockey-Welt ein Gesprächsthema. Am 26. April brennt der Atomreaktor in Tschernobyl durch. Der letzte WM-Spieltag ist der 28. April. Bis zum Abflug wissen wir immer noch nicht, was tatsächlich passiert ist: Bis zum Abflug am 28. April gibt es keine Informationen aus sowjetischen Quellen. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Moskau sind ahnungslos. Im Staatsfernsehen wird noch am 27. April ein Radrennen aus Kiew übertragen. Nur von den Kollegen aus Finnland wissen wir von starker Radioaktivität, die in Helsinki gemessen wird. So stark, dass sich irgendwo in der UdSSR eine Katastrophe, ein Atomunfall ereignet haben muss. Es sind unheimliche Tage bis zur Heimreise.
Helsinki im Mai 2022 ist anders. Nicht unheimlich. Ja, es sind unbeschwerte, heitere, sonnige Tage bei angenehmen Temperaturen zwischen 10 und 15 Grad. Im Strassencafé oder im Stadion ist die besondere Lage nicht spürbar. Wer will, kann in diesen Tagen die unfassbare Tragödie in der Ukraine vergessen, ignorieren und ausblenden und Eishockey als wichtigste Sache der Welt betrachten.
Und doch schlummert etwas unter der Oberfläche. Es gibt Dinge, die wir in normalen Zeiten kaum beachtet haben und die nun eine andere Bedeutung bekommen.
Denkmäler für Kriegsopfer oder zu Ehren von Kriegshelden gibt es in vielen Ländern. Sie stehen in Frankreich, Italien, Russland oder in Nordamerika. Auch bei uns finden wir Gedenktafeln. Sie mahnen an die während der Wacht an der Grenze im 1. und 2. Weltkrieg verstorbenen Soldaten.
Aber in der Wahrnehmung waren das immer steinerne Mahnmale aus einer längst vergangenen Zeit, die uns nichts mehr angeht. Krieg? Bei uns? Das war gestern. Das gibt es in unserem Kulturkreis nie mehr. Völlig undenkbar. Die Welt ist eine andere geworden als 1914 oder 1939.
Hier folgt keine Hotel-Schleichwerbung. Der Chronist logiert im «Scandic Grand Central» beim Bahnhof. Die Besonderheit: Das Hotel befindet sich im ehemaligen, imposanten, steinernen Verwaltungsgebäude der finnischen Eisenbahn.
Im zweiten Stock ist mir eine riesige Gedenktafel aufgefallen. Sie reicht vom Fussboden bis an die hohe Decke und enthält etwas mehr als 30 Namen. Jeder mit einem Datum aus dem Jahre 1918.
Es sind die Namen der Angestellten der finnischen Eisenbahn, die im Bürgerkrieg von 1918 ihr Leben verloren haben und das Datum ist der Tag, an dem sie ihr Leben verloren haben. Kurz nach der Unabhängigkeit von Russland (1917) ist Finnland von einem Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der neu gewonnenen Freiheit (den Weissen) und den Kommunisten (den Roten) erschüttert worden.
Nun führt Russland Krieg mitten in Europa. Wenn wir eine Linie ziehen vom Brest am Atlantik bis zum Ural, dann liegt Kiew ziemlich genau in der Mitte.
Was ferne, in Ehrentafeln und Denkmälern erstarrte Geschichte schien, erwacht auf eine beklemmende Art und Weise zu lebendiger Gegenwart.
Mit dem Wissen um die Geschichte und einer Sensibilität für das, was in unseren Tagen auch ausserhalb von Hockeystadien passiert, stimmt diese Gedenktafel im ersten Stock eines komfortablen Viersterne-Hotels nachdenklich. Sie wird auf einmal aktuell.
Welche Dramen mögen sich hier in diesen Mauern 1918 abgespielt haben? Welche Dramen stehen der Welt 2022 bevor?