Für den französischen Dichter André Breton ist Prag «die magische Metropole Europas». Für viele andere ist Prag ein literarisches Paradies. Unzählige Male beschrieben, Schauplatz vieler Romane und Filme. Eine Stadt, durchzogen von der Magie der Worte.
Für unser Hockey ist Prag die Stadt der WM-Schicksalsspiele gegen Deutschland. 1972, 1992, 2004 und nun auch 2015. Ja, 2015 ist Prag für uns sogar die Stadt der «mystischen Nationalmannschaft».
Und nun also Prag 2015. Wieder ein Schicksalsspiel gegen Deutschland (Dienstag, 16.15 Uhr, im Liveticker). Im Falle eines Sieges sind wir den Viertelfinals nahe. Wenn wir verlieren, droht uns das schmählichste Verpassen der Viertelfinals seit 2002.
1972, 1992 und 2004 hatte unsere Nationalmannschaft ein klares Profil. Sie war einfach einzuschätzen. Aber jetzt haben wir so etwas wie eine «mystische Nationalmannschaft». Wir wissen immer noch nicht ganz, was diese Mannschaft eigentlich ist, was sie spielt, welche Entwicklung sie nehmen wird, wie dieses Turnier enden soll und wie wir Nationaltrainer Glen Hanlon einordnen sollen.
Ach, 1972, 1992 und 2004 war es so einfach. Da waren wir Aussenseiter, überglücklich über die Präsenz auf höchstem WM-Niveau und das Viertelfinale ein riesiger Erfolg. Gaston Pelletier (1972), John Slettvoll und Bill Gilligan (1992) sowie Ralph Krueger (2004) waren charismatische Bandengeneräle. Ihre Autorität unantastbar: Ihr Erfolgsausweis grandios und ihre Worte waren für die Chronisten Gospel. Ja, John Slettvoll scheute sich 1992 nicht, einen missliebigen Schreiberling im Kabinengang am Kragen zu packen und ihm Prügel anzudrohen.
Heute ist die Schweiz in Prag ein WM-Titan. Der WM-Finalist von 2013. Also kein Aussenseiter wie 1972, 1992 und 2004. Die Erwartungen sind hoch. Aber die Zuversicht ist nicht gross. Der freundliche Nationaltrainer Glen Hanlon ist beliebt. Aber er hat bei weitem nicht das Charisma von Gaston Pelletier, John Slettvoll, Bill Gilligan oder Ralph Krueger.
Und so wissen wir immer noch nicht, wie gut das WM-Team von 2015 wirklich ist. Das 3:1 gegen Frankreich hat die Zweifler noch lange nicht überzeugt. Zu peinlich war die Auftaktniederlage gegen Aufsteiger Österreich (3:4 n. P.). Noch ist bei dieser WM alles möglich. Im Guten wie im Bösen.
Die Einschätzungen von Glen Hanlon und die Erklärungen der Spieler stehen in einem seltsamen Kontrast zu dem, was wir bisher auf dem Eis gesehen haben. Unser Nationaltrainer stuft die Leistung gegen Frankreich als «sehr gut» ein und sagt, er bleibe auch nach dem Videostudium bei dieser Einschätzung. «Wir hatten mehr Torchancen, liessen weniger Torschüsse zu, hatten mehr Überzahlsituationen in der gegnerischen Zone und das Boxplay war gut.» Nur das Powerplay sei verbesserungsfähig.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Spieler sind angetan von der guten Stimmung im Team. Einige sehen in dieser Beziehung gar Parallelen zur Silber-WM von 2013. Sie loben brav den Trainer. Und für den durchzogenen WM-Start gibt es eine logische Erklärung. Reto Berra sagt es so: «Es ist eben schwieriger, zum Auftakt gegen die Aussenseiter zu spielen als unbeschwert gegen die Favoriten wie 2013.» Wo er recht hat, hat er recht.
Aber es ist, wie es ist: Ein Sieg gegen Deutschland ist nun, anders als 1972, 1992 und 2004, Pflicht. Eine Niederlage wäre eine bittere Enttäuschung und erstmals Grund für sanfte Polemik. Das deutsche WM-Team ist nur noch eine Karikatur der WM-Mannschaften von 1972, 1992 und 2004. Die Deutschen haben das schwächste WM-Team seit der Rückkehr in die A-WM 2001.
Der freundliche Bundestrainer Pat Cortina ist bei den Chronisten beliebt, aber als Bundes-Bandengeneral geniesst er in seinem letzten Vertragsjahr nicht einmal mehr die Autorität eines Gefreiten. Kein Vergleich zu seinen charismatischen Vorgängern Gerhard Kiessling (1972), Luděk Bukač (1992) oder Hans Zach (2004). Die Stimmungslage der Deutschen ist ganz ähnlich wie bei den Schweizern. Ein Sieg gegen Frankreich (2:1) hat die Kritiker nicht besänftigt. Zu peinlich war die Niederlage (0:10) gegen Kanada.
Die Schweiz spielt gegen Deutschland mit Leonardo Genoni im Tor. Verteidiger Félicien Du Bois ist nach Hause geflogen. Seine Fingerverletzung macht weitere WM-Einsätze unmöglich. Ein Ersatz wird nicht nachnominiert.